Über einen für Autisten wichtigen Aspekt habe ich in den bisherigen Beiträgen nur oberflächlich gesprochen: Überreizungen und Overloads. Wie wichtig dieses Thema auch Nichtautisten ist zeigt das Feedback und die Fragen die dazu an mich gerichtet worden sind. Es ist gar nicht so einfach zu beschreiben wie sich ein Overload anfühlt, ob und wie man ihn bemerkt und was eigentlich während dessen überhaupt im Autisten vorgeht. Ich muss an dieser Stelle ausdrücklich betonen: Die nachfolgende Beschreibung ist sehr individuell und spiegelt nur das wieder was ich persönlich erlebe. Dies kann muss aber bei anderen Autisten nicht identisch oder ähnlich sein!

Es ist für mich als Autist wirklich schwer in Worte zu fassen was für einen selbstverständlich ist. Ich musste in der Tat längere Zeit überlegen wie ich einen sich anbahnenden Overload so treffend beschreiben kann, dass auch ein Nichtautist das nachvollziehen kann.

Das auf Autisten eine Vielzahl an Sinnesreizen einprasselt die Nichtaustisten ausblenden habe ich in meinen Beiträgen über die Wahrnehmung ja schon versucht ausführlich zu beschreiben. Aus dieser Überreizung wird allerdings nicht schlagartig ein Overload. Am besten kann ich das wohl in mehreren Stufen beschreiben:

Stufe 1: Unbewusste Kompensation

Je nachdem wie es mir geht gelingt mir die Kompensation der Überreizung, und diese ist unvermeidlich, mal mehr oder weniger gut. Generell kann ich sagen: Je schlechter es mir geht umso schneller verlasse ich diese Stufe oder sie wird gleich übersprungen. Die Kompensation läuft an diesem Punkt noch unbewusst ab und irgendwie kann man es schlecht beschreiben. Einfach ausgedrückt könnte man wohl sagen: Ich habe mich an die Reizflut gewöhnt so wie sich Menschen an bestimmte sie umgebende Reize ( Fluglärm, Gerüche usw.) auf Dauer gewöhnen können. Ich nehme die Reize in dieser Phase zwar wahr, aber sie stören oder behindern mich noch nicht massiv in dem was ich gerade machen möchte. Man könnte es auch als „Hintergrundrauschen“ bezeichnen.

Stufe 2:  Bewusste Kompensation

Reicht die automatische und unbewusste Kompensation der Reize nicht mehr aus, fängt man langsam aber sicher an die Reize bewusst zu kompensieren. Am besten kann man das wohl mit einem bewussten Versuch zu ignorieren vergleichen. Ich nehme die Reize sehr bewusst wahr und empfinde sie zunehmend als Störung. Aus dem Hintergrundrauschen wird ein Störfaktor der eine gewisse Menge Aufmerksamkeit auf sich und damit von dem was ich machen möchte abzieht. Ab diesem Punkt könnten Menschen die um den Autismus wissen bemerken, dass der betreffende Autist in dem was er macht langsamer, unsicherer oder zögerlicher wird. Die hier auftretenden Störungen kann man aber noch einigermaßen verkraften. Sie gehören fast zum Alltag von Autisten.

Stufe 3: Konzentration

In den beiden Stufen zuvor versuche ich die Störungen mehr oder weniger zu mindern oder zu ignorieren. Wenn das nicht mehr reicht oder es mir richtig schlecht geht ist das nicht mehr ausreichend. Ich muss anfangen mich auf das was ich machen möchte extrem zu konzentrieren. Spätestens hier kostet die Kompensation schon einiges an Kraft und erschöpft mich. Je erschöpfter ich bin umso weniger kann ich allerdings die Reize kompensieren. Spätestens ab hier kann sich also eine Kettenreaktion entwickeln die sich nicht mehr so leicht aufhalten lässt. Ab einem gewissen Punkt hilft dann nur noch die aktive Reizvermeidung. In der Phase der Konzentration auf das was ich gerade machen möchte merken auch nicht eingeweihte Menschen, dass mit mir etwas nicht stimmt und ich mich anders verhalte. Vor allem wird mein, ansonsten recht flottes, Arbeitstempo langsamer.

Stufe 4: Tunnelblick oder das Leben in einem Film

Wenn die gesteigerte Konzentration auf etwas nicht mehr ausreicht um die Störungen von außen durch Reize zu kompensieren entsteht langsam aber sicher ein Tunnelblick. Mein Gehirn fängt an alles Umgegebene auszublenden und richtet die Konzentration nur noch auf das was ich gerade mache. Für die Außenwelt kann dies so erscheinen als würde ich mich extrem zurückziehen oder, wie einige das ja in Verbindung mit Autismus beschreiben, in meiner eigenen Welt lebe. Dies ist nicht wirklich zutreffend da ich mich ja durchaus auf diese Welt konzentriere. Am besten kann man die Phase des Tunnelblickes wirklich mit einem Film beschreiben. Jeder hat sicher schon einmal folgenden Effekt im Fernsehen oder in einem Film gesehen:

Eine Person steht z.B. in der Fußgängerzone und im Zeitraffer zieht die Außenwelt bzw. die anderen Menschen an ihm vorbei. Die Person steht also still, die Welt um sie herum bewegt sich in einem anderen Zeitrahmen.

So ungefähr kann man sich das auch vorstellen wenn ich mich in dieser Phase durch eine belebte Straße bewege. Ich sehe nur noch meinen Weg bzw. mein Ziel, meine Umwelt sieht an mir vorbei. Man fühlt sich wirklich wie in einem Film der ohne das eigene Zutun abläuft und irgendwie auch nicht kontrollierbar ist. Spätestens jetzt ist es dringend angesagt sich in eine schützende Umgebung zu begeben um sich langsam wieder zu erholen. Da bei mir, wenn ich unter vielen Menschen bin, dieser Tunnelblick oder Filmeffekt schnell entsteht bin ich eigentlich nie ohne Begleitung unterwegs. Sie gibt mir die Sicherheit und einen Rettungsanker. Dies ist wichtig wenn man bedenkt das diese Phase sehr stressig und belastend ist. Und das ist etwas was auch jeder Nichtautist nachvollziehen kann: Wenn man langsam aber sicher von Stress in den Zustand von Panik kommt brechen alle Dämme und man verliert durchaus die Orientierung und Kontrolle über das was man noch tut. Was NICHT bedeutet, dass man aggressiv wird! Vielmehr eher das ich als Autist in das Stadium „hilflos“ komme aus dem ich mich selbst zumeist gar nicht mehr oder nur sehr mühsam wieder retten kann. Spätestens hier kommt man ziemlich sicher in

Stufe 5: Der Overload

Wenn ich absolut keine Chance habe den mich belastenden Reizen auszuweichen steuere ich ziemlich sicher auf einen Overload zu. Bislang, zum Glück, trat so wie ich mich daran erinnern kann, dieser Zustand erst auf wenn ich mich in Sicherheit befunden habe. Ich schaffe es also bedingt solange den Overload zu unterdrücken bis ich ihn „zulassen“ kann. Dies kostet aber enorme Kräfte und erschwert die Auswirkungen des Overload um ein vielfaches. Letztendlich ist ein Overload, so wie ich ihn empfinde, das Ergebnis der Anstrengungen und des Kraftverlustes von vorhergegangenen Situationen. Ich fühle mich ausgelaugt, extrem erschöpft und dauermüde, habe teilweise hämmernde Kopfschmerzen die einer Migräne gleichkommen. Gleichzeitig werde ich unheimlich empfindlich was meine eigenen Sinne betrifft. Leise Geräusche oder helle Umgebungen sind dann massiv stressig und belastend. Es kann sich sicher jeder vorstellen, dass eine Reizüberflutung  bei gleichzeitig überempfindlichen Sinnen und keiner Kraft für eine Kompensation eine schwierige Mischung sind. Kann ich den Overload nicht langsam abbauen oder habe ich ihn zu lange versucht zu vermeiden folgt

Stufe 6: Der Meltdown oder die komplette Leere

In wirklich schlimmen Fällen kommt es bei mir zu einem Zustand der absoluten inneren Leere. Nach außen hin wirke ich dann wohl sehr abgekapselt, nehme Reize nicht wirklich wahr und neige, im Extremfall, auch zum Mutismus. Der Meltdown ist für mich eine Phase der Verarbeitung, ich kann seltsamerweise recht klare Gedanken fassen aber die meiste Zeit bin ich sowohl bei den Gedanken als auch bei den Gefühlen leer. Der Meltdown, bzw. das was ich als Steigerung eines Overloads empfinde,  ist eine Phase der Neuorientierung, der Regeneration und auch des Verarbeitens des zuvor erlebten. In dieser Phase ist kommunizieren extrem schwer, wenn man selbst nichts fühlt kann man dies auch nicht ordentlich kommunizieren. Meltdowns sind recht selten, ich muss aber auch zugeben, dass ich mich nur schwer an bewusste Overloads und vor allem Meltdowns erinnern kann. Wenn man erst mit 35 Jahren die Diagnose Autismus bekommt und sich auch mit diesen Phänomenen befasst wird einem erst rückwirkend klar was man vorher als extrem seltsame Begebenheit empfunden hat. Man hatte ja keinen Namen für das was vorher in einem vorgegangen ist. Letztendlich wird mir erst beim Schreiben dieses Beitrages und der intensiven Auseinandersetzung mit dieser Thematik wirklich klar das was ich vorher als Overload bezeichnet und empfunden habe für viele Autisten schon ein Meltdown ist.

Die von mir beschriebenen Stufen gehen fließend ineinander über und sind keine strikte Reihenfolge. Es kann also sein, dass ich gleich bei Stufe 3 ankomme oder eine bzw. mehrere Stufen im beschriebenen Ablauf überspringe. Ich habe das nur so detailliert und abgestuft beschrieben um die Entstehung eines Overloads beschreiben zu können.