Oder: Hört das jemals auf?

Wenn ich ehrlich bin: Ich wünsche mir im Moment nichts mehr als das. Es soll aufhören! Es soll mich in Ruhe lassen! Aber das tut es natürlich nicht. Und so frage ich mich: Wie viele Menschen müssen noch „aufschreien“ (verzeiht bitte diesen Vergleich mit dem Aufschrei bei Twitter!)? Wie viele Menschen müssen noch verzweifeln und daran resignieren? Und gibt es überhaupt ein Ende?

Dieses Mal geht es nicht um einen Artikel oder Beitrag der sprachlich bei Autismus danebengegriffen hat. Dieses Mal geht es um die kleinen und großen Heiligtümer der deutschen Sprache und damit auch um die Grundlagen für deren praktische Anwendung.

Zum Duden und Fremdwörterbuch in Bezug auf Autismus habe ich ja schon einmal etwas geschrieben (Sprache des Autismus). Ich möchte mich an dieser Stelle aber noch einmal wiederholen um den Sinnzusammenhang zwischen Sprachvorgaben und Anwendung ausführlich darstellen zu können.

Schauen wir also in den Duden in einer nicht hyperaktuellen aber doch noch aus diesem Jahrtausend stammenden Version:

„Autismus der; (griech) (Med.: [krankhafte] Ichbezogenheit, Kontaktunfähigkeit); autistisch“

Das große Fremdwörterbuch aus selbiger Reihe schreibt dazu:

„Autismus der;  bes. bei schizoiden u. schizophrenen Personen vorkommende psychische Störung, die sich in krankhafter Ichbezogenheit u. affektiver Teilnahmelosigkeit, Verlust des Umweltkontaktes u. Flucht in die eigene Fantasiewelt äußert; Insichgekehrtheit. Autist der; -en , -en: jmd. der an Autismus leidet. Autistisch : a) den Autismus betreffend; b) an Autismus leidend“

Fasst man dies zusammen ist Autismus sinnbedeutend mit:

  • Krankhaft
  • Ichbezogen
  • Kontaktunfähig
  • Zusammenhängend mit schizoiden und schizophrenen Personen
  • Psychische Störung
  • Affektive Teilnahmelosigkeit
  • Flucht in eine Fantasiewelt
  • Etwas an dem man leidet

8 Kernpunkte die Duden und das große Fremdwörterbuch über die Sinnbedeutung von Autismus in der deutschen Sprache. 8 Kernpunkte wie die deutsche Sprache und deren Anwender Autismus zu verstehen haben. Das alle 8 Kernpunkte nicht zutreffend sind bzw. Autismus falsch beschreiben ist Linguisten und Philologen anscheinend recht egal. Das kann die Medizin dann schon wieder richten!

Betrachtet man nun diese, für die deutsche Sprache hochoffizielle und verbindliche, Bedeutung von Autismus ist nicht verwunderlich wenn in sprachorientierten Arbeitsbereichen wie der Journalismus und die Politik Autismus fleißig dem reinen Wortsinn nach verwendet wird. So wird einem politischen Gegner gerne mal „politischer Autismus“ unterstellt, ein Bürgermeister verhält sich wie ein Autist in Belangen seiner Entscheidungsbefugnisse und ganze Regierungen bestehen aus Autisten.

Was mich zu einem weiteren Werk der deutschen Sprache bringt:

Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen von Franz Dornseiff

Wer ihn nicht kennt, ich kannte ihn auch bis heute nicht, dem möchte ich kurz die Informationsseite des Verlages zum Werk zitieren:

Den „Reichtum der deutschen Ausdrucksmittel“ wollte Franz Dornseiff (1888-1960) dokumentieren, als er 1933 sein großes Wörterbuch zum ersten Mal vorlegte. Die Dichter haben sich dieser Schatztruhe der deutschen Sprache gerne bedient, und nicht nur sie.

Es geht bei dem besagten Werk also um den Reichtum der Sprache und stellt für Menschen die mit der Sprache arbeiten eine Schatztruhe dar. Das macht neugierig, oder? Also öffnen wir mal das Schatzkästchen und schauen uns an was wir finden:

Denn mit seinem einzigartigen Strukturierungsprinzip stellt der Dornseiff ein unverzichtbares Hilfsmittel für jeden Schreibenden dar, der bedeutungsverwandte Wörter (Synonyme) sucht, um seine Texte präziser und abwechslungsreicher zu formulieren. Über die stilistische Praxis hinaus ermöglicht der Dornseiff dem Sprachwissenschaftler differenzierte Wortschatzanalysen. Der Dornseiff bildet den gesamten deutschen Wortschatz nach Sachgruppen geordnet ab, d. h. nicht alphabetisch. So präsentiert jeder Eintrag eine Fülle von Wörtern aller Wortarten, die zur jeweiligen Sache bzw. einem Begriff gehören, und bietet so Information, Dokumentation und Inspiration in einem.

Für mich als Informationswissenschaftler und auch als Autist der gerne klassifiziert eine vielversprechende Sache. Sprache klassifiziert und geordnet. Fast schon ein Paradies! Aber wie jedes Paradies hat auch dieses einen vergifteten Apfel. Quasi so etwas wie die dunkle Seite des Sprachreichtums. Schauen wir uns doch einfach mal an wie in diesem Paradies das Wort Autismus einklassifiziert wird:

Dornseiff-Bedeutungsgruppe:  10.31 Trübsinn:

Autismus, Depression, Grübelei, Lebensüberdruss, Migräne, Spleen, Verfolgungswahn

Autismus fällt also in die Klasse – man kann sie auch Schublade nennen- Trübsinn. Sind Autisten wirklich trübsinnig? Was ist Trübsinn überhaupt? Ein getrübter Sinn? Oder eher eine betrübte Lebenshaltung? Fragen wir Dornseiff doch selbst:

10.31 Trübsinn:

Bedauern, Bekümmernis, Betrübnis, Freudlosigkeit, Gram, Harm, Kummer, Missmut, Missstimmung, Missvergnügen, Nostalgie, Pessimismus, Schwarzseherei, Trauer, Trübsinn, Überdruss, Wehmut

Ich gebe zu: Wenn ich lese mit welchen anderen deutschen Worten Autismus in der Schublade Trübsinn landet bedauere ich das. Es bekümmert mich, macht mich freudlos, vergrämt mich, bereitet mir Kummer, macht mich missmutig, bringt mich in eine Missstimmung, bereitet mir Missvergnügen, macht mich pessimistisch und zum Schwarzseher, lässt mich trauern und ich werde mit Wehmut der deutschen Sprache so langsam überdrüssig!

Womit ich Herrn Dornseiff wohl gerade eben Recht gegeben habe. Eine sog. self fulfilling prophecy? Dazu später mehr.

Ich finde es dennoch bedenklich, wenn man Autismus sinngleich mit Depressionen und Verfolgungswahn setzt. Autismus ist auch kein Spleen den man sich einbildet und schlichtweg auch keine Grübelei oder Lebensüberdruss. Migräne macht mich sprachlos.

Das Werk von Dornseiff hat aber nicht nur Autismus klassifiziert. Auch „autistisch“ ist in einer Schublade gelandet!

Um die Spannung etwas zu steigern vorab die Mitbewohner dieser Schublade:

asozial, egoistisch, egozentrisch, eigensüchtig, einsam, menschenfeindlich, menschenscheu, selbstsüchtig, unnahbar.

Wem hier schon die Hutschnur hochgeht und die Magensäure die Speiseröhre verätzt sollte die folgenden Zeilen, der Gesundheit zuliebe, nicht lesen!

Es folgt der Name der Schublade:

10.60 Menschenhass

Langsam fange ich an Menschen wirklich zu hassen. Und da war sie wieder: Die sich selbsterfüllende Prophezeiung!

Als Belegbeispiel werden von der Uni Leipzig übrigens 3 Zeitungsartikel gebracht in der das Wort autistisch in sinngebendem Zusammenhang mit „Menschenhass“ verwendet wurde. Toll!

Stellt sich mir folgende und letzte Frage:

Was war als Erstes da? Der Eintrag im Dornseiff der „autistisch“ als mit Menschenhass belegtes Wort klassifiziert und definiert hat? Oder die Medien die angefangen haben „autistisch“ so zu verwenden und damit ihren Teil dazu beigetragen haben das es eben so und nicht anders klassifiziert wurde? Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur:

Es ist ein Teufelskreis! Ein Standardwerk der deutschen Sprache belegt das Wort „autistisch“ mit menschenhassender Bedeutung. Also wird es, wenn man es denn nachschlägt, auch ohne schlechtes Gewissen so eingesetzt. Und solange es so eingesetzt wird….kann es nicht aus der Klassifizierung unter 10.60 Menschenhass verschwinden.

Ein Zustand der mich verzweifeln lässt und traurig macht. Ich würde aus Protest am liebsten der deutschen Sprache meine Freundschaft aufkündigen und in Zukunft schweigen!