Den ersten „Dialog“ führe ich mit Edith Vogt-Hörler. Den Ursprung hat dieser Dialog im Autismus Forum Schweiz. In der Reihe „Im Dialog mit“ geht es mir nicht darum etwas als Falsch oder Richtig zu deklarieren. Es geht um den Dialog und den Austausch von Sichtweisen und darum das verschiedene Facetten und Sichtweisen zusammenfinden und ein erweitertes Bild entsteht. Es bleibt dem Leser überlassen wie dieses Bild am Ende des Dialogs aussieht.
Nun aber zum ersten Dialog:
Edith Vogt-Hörler:
Neuropsychologische Aspekte der Autismus-Spektrum-Störung (ASS)
Es werden aktuell in der Wissenschaft drei wichtige neuropsychologische Theorien genannt, die Besonderheiten der autistischen Informationsverarbeitung erklären sollen: Theory of Mind, Theorie der zentralen Kohärenz und die Theorie der exekutiven Funktionen. Meist sind bei Menschen mit ASS Schwierigkeiten in mehr als einem dieser drei Bereiche zu beobachten. Da die Kenntnis der Theorien das Verständnis für die autistische Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweise erhöht und den alltäglichen Umgang mit Menschen mit ASS erleichtert, werden sie an dieser Stelle genauer beleuchtet.
Theory of Mind
Mit dem Begriff „Theory of Mind“ ist die Fähigkeit gemeint, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderer Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen Anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen (Remschmidt et al. 2006).
Das Wissen darüber, dass jede Person Gedanken und Gefühle hat und dass diese sich von denen anderer Personen unterscheiden können, bildet die Grundlage für das Verstehen sozialer Situationen (Colle et al. 2006). Die Fähigkeit zur Theory of Mind beginnt sich ca. im Alter von vier Jahren zu entwickeln und differenziert sich in der Folge immer weiter. Zuvor halten Menschen ihre Wahrnehmungen und Gedanken für die einzige Wahrheit. Sie funktionieren egozentrisch. Vorläufer der Theory of Mind in der menschlichen Entwicklung bilden die Fähigkeit zur Imitation, zur geteilten Aufmerksamkeit und zum symbolischen Spiel (cf. Roeyers und Warreyn, 2010).
Studien konnten zeigen, dass bei Menschen mit ASS Defizite in der Entwicklung der Theory of Mind bestehen. Während die mangelnde Theory of Mind bei Menschen mit schweren autistischen Störungen offensichtlich ist, können Menschen mit leichteren autistischen Störungen wie z.B. Asperger-Syndrom dieses Defizit in überschaubaren sozialen Situationen oft gut durch ihre Intelligenz kompensieren. Das Defizit fällt oft erst in realen komplexen sozialen Situationen mit mehreren Beteiligten auf. So werden beispielsweise nonverbale Hinweisreize (Prosodie, Mimik) nicht oder ungenügend beachtet. Ohne ausreichende Theory of Mind ist das Verhalten anderer Menschen weder verständlich noch voraussehbar. Unterschiedliche Studien konnten den Mangel Theory of Mind bei Menschen mit ASS auf hirnphysiologischer Ebene nachweisen. Eine Übersicht über die Arbeiten findet sich bei Jenny et. al. (2012).
Im Alltag zeigt sich der Mangel an Theory of Mind oft darin, dass Menschen mit ASS Doppelbödigkeiten nicht verstehen, da sie sich auf den Inhalt von Aussagen fokussieren ohne die Prosodie und/oder die Mimik in die Interpretation mit einzubeziehen. Daher haben sie z.B. im Verstehen von Witzen und Ironie Schwierigkeiten. Wenn sie Freundschaften suchen, geraten sie oft in Situationen, in denen sie ausgenutzt werden. Sie verstehen ungenügend, dass eine Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruht und auf Vertrauen und Loyalität beiderseits baut.
Zentrale Kohärenz
Die zentrale Kohärenz ist die Fähigkeit, übergreifende (soziale) Muster und den gesamten Kontext zu erfassen (Happé et al., 2006). Neurotypische Menschen setzen Reize (Menschen, Objekte, Situationen, Gefühle) immer in Bezug zum jeweiligen Kontext. Bei Menschen mit ASS ist die Fähigkeit zur zentralen Kohärenz beeinträchtigt. Dagegen ist die Tendenz, Reize isoliert und kontextfrei zu verarbeiten stark. Es wird oft von einer ausgeprägten Detailwahrnehmung bei Menschen mit ASS gesprochen. Studien konnten zeigen, dass Menschen mit eine leichten Form einer ASS dazu in der Lage sind, ganzheitlich wahrzunehmen, wenn sie explizit dazu aufgefordert werden. Ohne entsprechende Anleitung konzentrieren sie sich jedoch auf Details. Beide Wahrnehmungsstile haben in bestimmten Situationen ihre Vor- bzw. Nachteile. Um komplexe soziale Situationen zu verstehen, ist eine ganzheitliche Wahrnehmung (central coherence) unabdingbar. Im Analysieren von Fehlern ist eine detailorientierte Wahrnehmung (local coherence) jedoch hilfreicher.
Diese Besonderheit zeigt sich im Alltag immer wieder in der Fähigkeit von Menschen mit ASS, sich in ein Spezialgebiet zu vertiefen und sich in diesem Bereich erstaunliches Wissen und Fertigkeiten anzueignen. Spezialgebiete können mannigfach sein und reichen von technischen Bereichen über Logistik (z. B. Schienenbelegungspläne der SBB) bis hin zu botanischem bzw. zoologischem Wissen. Es zeigen sich bei den bzgl. Alltäglichem oft vergesslichen Menschen mit ASS eindrückliche Gedächtnisleistungen bezogen auf ihr Spezialgebiet.
Exekutive Funktionen
Bei den exekutiven Funktionen geht es um die Fähigkeit zu planen und zielgerichtet zu handeln. Bei Menschen mit ASS sind diese Funktion beeinträchtigt. Ebenso finden sich beeinträchtigte exekutive Funktionen bei ADHS, Tourette-Syndrom oder Störungen des Sozialverhaltens (Pennington et al. 1996). Diesen Störungen gemeinsam ist eine mangelnde Hemmung von Reaktionen, die einer zielgerichteten Handlung abträglich sind. Menschen mit einer ASS reagieren bei Wut beispielsweise oft in der Tendenz impulsiv und aggressiv. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, alternative Verhaltensweisen in Betracht zu ziehen. Veränderungsängste, Spezialinteressen und fehlendes vorausschauendes Denken finden ihren Ursprung in mangelnden exekutiven Funktionen (Freitag, 2009).
Im Alltag zeigt sich diese Problematik sehr deutlich darin, dass Abläufe oft sehr mühsam und am besten mit visueller Unterstützung gelernt werden. Damit sind Kompetenzen wie ein WC-Gang gemeint, aber auch Stundenpläne in der Schule. Unerwartete Veränderungen von Personen oder Abfolgen in der Schule führen bei Menschen mit ASS zu starker Verunsicherung und in der Folge nicht selten zu aggressivem Verhalten.
Literatur:
Colle, L., Baron-Cohen, S., Hill, J. (2006). Do children with autism habe a theory of mind? A non-verbal test of Autism vs. Specific language impairment. Journal of Autism and Developmental Disorders, 37, 716-723
Freitag, C. (2009). Neuropsychologische Diagnostik bei autistischen Störungen. Kindheit und Entwicklung, 18 (2), 73-82
Happé, F., Frith, U. (2006). The Weak Coherence Account: Detail-focused Cognitive Style in Autism Spectrum Disorders. Journal of Autism and Developmental Disorders, 36 (1), 5-25
Jenny, B., Goetschel, Ph., Isenschmid, M., Steinhausen, H.-Ch. (2012). Kompass-Zürcher Kompetenztraining für Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Stuttgart: Kohlhammer.
Pennington, P. F., Ozonoff, S. (1996). Executive Functions and Developmental Psychopathology. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 37 (1), 51-87
Remschmidt, H., Kamp-Becker, I. (2006). Asperger-Syndrom. Heidelberg: Springer.
Roeyers, H., Warreyn, P. (2010). Frühe soziale-kommunikative Beeinträchtigung bei Autismus-Spektrum-Störungen. In H.- Ch. Steinhausen, R. Gundelfinger (Hrsg.), Diagnose und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen. Grundlagen und Praxis (S. 44-80). Stuttgart: Kohlhammer.
Aleksander Knauerhase:
Zur Theory of Mind:
Ich gebe offen zu: Sie ist und war mir immer ein Rätsel. Einfach ausgedrückt: Wie soll ich bitte erraten was eine andere Person fühlt oder denkt? Ich bin nicht die andere Person. Ich habe weder ihre Lebenserfahrung noch weiß ich was diese Person geprägt hat. Letztendlich ist die Theory of Mind dann doch nichts anderes als ein munteres Ratespiel. Ob man richtig liegt oder nicht wird man nie erfahren.
„Mit dem Begriff „Theory of Mind“ ist die Fähigkeit gemeint, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderer Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen Anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen (Remschmidt et al. 2006).“
Ich komme hier schon fast an ein Paradoxon. Auf der einen Seite ist es mir ein Bedürfnis möglichst viel vorauszuplanen damit ich eine gewisse Sicherheit habe. Bei anderen Menschen jedoch empfinde ich es, auch auf mich selbst übertragen, als einen ganz intimen Eingriff wenn jemand versucht mich vorherzusehen. Ich würde mich dann nämlich manipuliert fühlen. Anders ausgedrückt: Wenn jemand meine Reaktionen vorhersehen kann weiß er auch wie er eine von ihm gewünschte Reaktion provozieren kann. Vorhersehbar zu sein empfinde ich als sehr unangenehm. Und weil ich das für mich so empfinde werde ich auch nicht versuchen jemand anderen und seine Reaktionen vorherzusehen. Auch wenn es viel Kraft kosten kann mit „Überraschungen“ umzugehen, so ist doch genau diese Freiheit das was ich an anderen Menschen schätze. Dass sie so sind wie sie eben sind, und nicht wie ich es vielleicht gerne hätte und steuern könnte. Vielleicht mag ich auch deshalb Gespräche mit Verkäufern nicht wirklich. Sie sind für mich nämlich ganz klar vorhersehbar und das eben auch in ihrer Absicht mich mit Worten manipulieren zu wollen. Und das ist kein Verfolgungswahn sondern Verkaufspsychologie 😀
„Das Wissen darüber, dass jede Person Gedanken und Gefühle hat und dass diese sich von denen anderer Personen unterscheiden können, bildet die Grundlage für das Verstehen sozialer Situationen (Colle et al. 2006).“
Auch hier sehe ich die Sache differenziert und etwas gespalten. Ich denke jeder Autist wird sich früher oder später im Leben darüber klar, dass sich seine Gedanken und Gefühle massiv von denen der anderen Menschen um ihn herum unterscheiden. Ein Aspekt der erheblichen Leidensdruck verursachen kann. Ich denke sogar das Autisten sich genau über diesen Punkt sehr viel klarer sind als nichtautistische Menschen. Diese neigen doch dazu, ihre Sichtweise von Dingen für gültig zu erklären. Das Bild „Autisten leben in ihrer eigenen Welt“ ist so entstanden. Durch Außenbeobachtungen und Schlussfolgerungen aufgrund der Erfahrungswerte von Nichtautisten. Man schloss aus gewissen Verhalten eben daraus das Autisten in ihrer eigenen Welt leben müssen und damit auch von der Außensicht auf die Innensicht und das beides Deckungsgleich ist.
„Im Alltag zeigt sich der Mangel an Theory of Mind oft darin, dass Menschen mit ASS Doppelbödigkeiten nicht verstehen, da sie sich auf den Inhalt von Aussagen fokussieren ohne die Prosodie und/oder die Mimik in die Interpretation mit einzubeziehen. Daher haben sie z.B. im Verstehen von Witzen und Ironie Schwierigkeiten.“
Provokant gefragt: Liegt hier der Fehler in dem Nichtverstehen von Doppeldeutigkeiten? Oder doch vielmehr in der Verwendung derselben? Ich höre nur allzu oft, dass sich auch Nichtautisten eine klarere Sprache wünschen und dass diese wesentlich einfacher, umgänglicher und stressfreier ist. Und mal Hand aufs Herz: Doppeldeutigkeiten bzw. versteckte Botschaften sind letztendlich nur eines: Das sich um die direkte Aussage und die Wahrheit drum herum drücken. Warum sonst verpackt man unangenehme Aussagen? Was Witze betrifft: Auch Nichtautisten verstehen nicht alle Witze oder finden diese Witzig.
Zentrale Kohärenz:
Eine Theorie in der ich mich mit meinen Autismus noch am ehesten wiederfinden kann. In meinem Vortrag über die „Stärken der autistischen Wahrnehmung“ nimmt die Zentrale Kohärenz auch einen wichtigen Platz ein.
„Bei Menschen mit ASS ist die Fähigkeit zur zentralen Kohärenz beeinträchtigt. Dagegen ist die Tendenz, Reize isoliert und kontextfrei zu verarbeiten stark.“
Hier wurde ich den Grund weniger in der Fähigkeit an sich suchen, sondern in der Reizverarbeitung im Gehirn. Autisten nehmen, in meinen Augen, die Reize bevorzugt isoliert und kontextfrei wahr da diese, und hier liegt der Unterschied zum Nichtautisten, nicht oder nur eingeschränkt vom Thalamus vorgefiltert werden. Bei Nichtautisten werden Sinnesreize schon vor dem Übergang in das Bewusstsein im Bereich des Thalamus gefiltert und auch priorisiert (z.B. Gefahrreize). Werden die Reize jedoch fast ungefiltert in das Bewusstsein übertragen, ist es die Aufgabe des Autisten diese im Bewusstsein zu analysieren und wieder in einen Kontext zu bringen.
„Es wird oft von einer ausgeprägten Detailwahrnehmung bei Menschen mit ASS gesprochen. Studien konnten zeigen, dass Menschen mit eine leichten Form einer ASS dazu in der Lage sind, ganzheitlich wahrzunehmen, wenn sie explizit dazu aufgefordert werden.“
Das sehe ich nicht ganz so. Nehmen wir das Beispiel mit den vielen Bäumen. Ein Nichtautist neigt dazu einen Wald zu sehen, ein Autist die einzelnen Bäume. So wieder der Nichtautist aber auch die Bäume in einem zweiten Schritt wahrnimmt schließt ein Autist aus den Bäumen einen Wald.
Oder anders gesagt: Die einen sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Als Autist sehe ich viele Bäume und weiß das es ein Wald sein muss 🙂
Exekutive Funktionen:
„Bei den exekutiven Funktionen geht es um die Fähigkeit zu planen und zielgerichtet zu handeln. Bei Menschen mit ASS sind diese Funktion beeinträchtigt“
Dem muss ich klar widersprechen. Gerade Autisten neigen dazu, auch um die Sicherheit ihrer Umgebung zu gewährleisten, alles und auch Details zu planen und sehr zielgerichtet zu handeln. Kleines Beispiel „Einkaufen gehen“.
Als Autist schreibe ich meinen Einkaufszettel nach dem Durchlauf im Markt. Ich gehe sehr zielgerichtet, umweglos und schnell zu den einzelnen Posten und kaufe so sehr direkt ein. So mancher Nichtautist schlendert eher durch den Markt, bleibt stehen, greift hier und dort zu, plaudert noch mich anderen Menschen und verbringt (mal hart gerechnet) wesentlich mehr Zeit beim Einkaufen als ich.
„Diesen Störungen gemeinsam ist eine mangelnde Hemmung von Reaktionen, die einer zielgerichteten Handlung abträglich sind.“
Ich kann nun nicht für alle genannten Fälle sprechen. Aber bei Autismus und Tourette sehe ich das anders. Gerade beim Tourettesyndrom ist es in meinen Augen keine mangelnde Hemmung von Reaktionen. Der Druck der sich hier aufbaut wird durch ein bewusstes unterdrücken und hemmen noch schwerer. Je mehr man dagegen angeht umso schlimmer wird es. Auch gehe ich eigentlich davon aus, dass man nur die Handlungen bewusst hemmen kann die der eigenen Entscheidungsgewalt unterliegen. Dies ist, auch wenn die Außenwelt das gerne so sieht, nicht immer der Fall. Als Beispiel bei Autismus kann ich hier den Drang zum Selbstverletzung nennen. Natürlich ist man sich in so einer Situation sehr bewusst dass man sich hier schadet. Aber genau dieses Bewusstsein und das Gefühl das der Körper einen zu Handlungen zwingen kann die man kaum unter Kontrolle hat machen es einen in so einer Situation noch viel schwerer. Das mag unter Umständen aber nur jemand nachvollziehen können der selbst schon in einer solchen Situation war. Auch wenn die „Theory of Mind“ das eigentlich von jedem Menschen verlangt, oder? 😉
„Menschen mit einer ASS reagieren bei Wut beispielsweise oft in der Tendenz impulsiv und aggressiv. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, alternative Verhaltensweisen in Betracht zu ziehen.“
Das stimmt definitiv nicht. Über das Thema „unvermittelte Wutausbrüche“ habe ich schon einiges in meinem Blog geschrieben. Kurz gefasst:
Die Handlungen sind in der Mehrheit nicht impulsiv und damit unvorhergesehen. Sie sind vorhersehbar und kündigen sich oftmals deutlich an. Als unvermittelt und impulsiv werden sie nur deshalb empfunden weil die Außenstehenden die Anzeichen und „Hilferufe“ des Autisten nicht oder nicht richtig deuten. Auch hier meine, vielleicht provokante, Frage: Wo ist da die Theory of Mind bei den Nichtautisten? Sie wird solange nicht funktionieren wie man die Innensicht der Autisten nicht verinnerlicht hat. Im Umkehrschluss aber verlangt man von Autisten dass sie die Innensicht der Nichtautisten beherrschen. Eine Schieflage die man dringend hinterfragen muss würde ich sagen.
Aggressiv sind die Ausbrüche zumeist auch nicht. Vielmehr sind es oftmals die einzige Wahl die einem Autisten noch übrig bleibt aus einer, für ihn extrem bedrängenden und unangenehmen Situation, zu flüchten. Daher sehe ich die von anderen empfundene Gewalt eher als passiv da sie nicht das Ziel hat andere Menschen zu verletzen sondern nur sich einer Notsituation zu entziehen. Es ist eine Flucht.
„Unerwartete Veränderungen von Personen oder Abfolgen in der Schule führen bei Menschen mit ASS zu starker Verunsicherung und in der Folge nicht selten zu aggressivem Verhalten.“
Wobei dieses als aggressiv empfundene Verhalten weniger ein Protest gegen Veränderungen ansich ist sondern vielmehr ein Ergebnis selbiger. Veränderungen verursachen Verunsicherung. Verunsicherung verursacht Stress weil jeder Sinnesreiz eine „Bedrohung“ darstellen kann. Stress wiederum führt zu einer langsameren Verarbeitung der Sinnesreize und damit zu einer sich steigernden Reizüberflutung. Diese verursacht noch mehr Stress, dieser verlangsamt die Reizverarbeitung noch mehr. Das schaukelt sich dann zu einem Overload hoch der sich auch in einem, von der Außensicht so gedeutetem, aggressivem Verhalten widerspiegeln kann.
Hallo Aleksander,
zunächst mal ein großes Danke für deine Arbeit!
Darf ich fragen, wie Du über die Monotropismus-Theorie denkst? (http://www.autismusundcomputer.de/diagnosiscriteria.de.html)
Ich fühle mich mit dem Bild, das durch die drei o.g. Theorien von Autisten entsteht ebenfalls nicht ganz wohl. Vieles stimmt, einiges aber nicht oder nicht ganz. So wie ich sie verstehe. ist die Monotropismus-Theorie das Ergebnis einer Zusammenführung und Weiterentwicklung dieser drei Theorien, die vieles besser erklärt. Fragt sich, wie die Wissenschaft dazu steht..
Hallo,
ich werde mir das mal anschauen. Ich frage gerne auch mal Frau Vogt-Hörler was sie als Psychologin darüber denkt. Vielleicht kommt dann ja noch eine Ergänzung zum Dialog 🙂
Grüße
Aleksander
Hallo Aleksander,
danke für den spannenden Dialog.
Ich möchte nun auch einige Gedanken dazu aufschreiben, aus meiner eigenen Beobachtung.
Ich weiß nicht, ob sie zu der autistischen Wahrnehmung passen, ich habe keine Diagnose.
Ich habe dazu im Hinterkopf den Unterschied zwischen emotionaler und kognitiver Empathie.
Alles, was ich in meine eigenen Erfahrungen einordnen kann, kann ich gut nachvollziehen bezüglich Theory of Mind. Das heißt, ich kann die Gefühle sehr gut erkennen bei den Menschen, die emotional gehemmt, neurotisch, depressiv, zwanghaft, introvertiert usw sind. Weil ich dazu in meiner Erinnerung Referenzen habe. Hier schaffe ich es sogar, Menschen zu verblüffen, wie viel ich aus dem Kontext über sie erkannt habe, wenn ich mich einmal traue, ihnen meine Beobachtungen mitzuteilen.
Im Gegensatz dazu weiß ich selten, was sehr extrovertierte und selbstbewusste Menschen denken, oder diejenigen, die eben als sehr emotional und einfühlsam gelten. Solche Menschen verunsichern mich sehr oft und lösen auch Komplexe in mir aus, da ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll und dann das Gefühl habe, da liegt ein Defizit vor.
Ich finde es jetzt schwierig, das alles in die oben genannten Theorien einzuordnen, vielleicht wegen mangelnder zentraler Kohärenz. Oft beobachte ich viele Details, die sonst kaum jemand wahrnimmt, und gebe sie an eine Person weiter, von der ich dann hoffe, dass sie das für mich in einen sinnvollen Zusammenhang bringt.
Was mir hilft, dann doch alles in Zusammenhang zu bringen, sind einfache Metaphern, die ich mir bildhaft vorstellen kann und die ich als Gesamtbild sehe, aber auch an einzelnen Details festmachen kann, wie das abstrakte Bild, das andere sich ohne Umweg machen können, in seinen Einzelheiten aussieht.
So komme ich dann über diesen Weg doch wieder auf ein Ganzes.
Was mir zu dem dritten Punkt einfällt, nämlich die Fähigkeit, Reaktionen zu planen, ist, dass ich oft Probleme habe, auf Emotionen einzugehen. Ich schaffe es dann gerade noch, sie zu erkennen, oder sogar, sie sehr gut und detailliert zu erkennen, aber ich kann dann nicht mehr angemessen reagieren, jemanden spontan umarmen, etwas dazu zu sagen, oder auch nur den passenden Gesichtsausdruck zu zeigen. Meist erstarre ich, wenn zuviel emotionaler Input kommt, und muss erst einmal verwirrt zur Seite schauen.
Wenn ich also die Anmerkungen der Psychologin und dir nicht gelesen hätte, dann könnte ich der reinen Überschrift zum Thema absolut zustimmen, denn da ist etwas, das mich an der Exekutive hindert.
Nicht in Alltagsdingen, da finde ich mich in deiner Beschreibung wieder, aber eben in emotionalen Dingen.
Obwohl, da kann ich auch planen, aber es ist dann wie eine Einbahnstraße. Entweder ich reagiere nur noch, bin absolut darauf fokussiert, mich die ganze Zeit nach außen passend darzustellen, aber kann dann nicht mehr erkennen, was mein Gegenüber währenddessen fühlt und denkt, oder auch nicht irgendeinen wichtigen Lernstoff (in Schule und Uni) aufnehmen, oder alles geht eben nur in die Richtung zu meinem Inneren, ich nehme auf, kann aber nicht mehr reagieren.
In beide Richtungen gleichzeitig funktioniert es nur bei sehr einfachen Dingen, die ich fast im Schlaf beherrsche, oder klaren Wahrheiten, wo es keine Mehrdeutigkeiten gibt. Das heißt, ich konnte mich früher in der Schule auch nur sehr selten melden, weil ich nicht gleichzeitig alles in mir verarbeiten konnte und auch noch darauf reagieren.
Heute ist es so, wenn ich zuhöre, dann wirke ich kurz abwesend, aber mit viel Kraftanstrengung kann ich das dann recht schnell verarbeiten und umschalten auf Gedankenfluss nach außen, mir also etwas zurechtlegen, und dann denjenigen anschauen, meine Mimik kontrollieren und dann ausdrucksvoll sagen, was ich genau denke und meine.
Diese beschleunigte Verarbeitung und das ständige, möglichst unauffällige Umschalten ist sehr anstrengend, aber es funktioniert auf begrenzte Zeit sehr gut.
Wenn ich mal etwas mehr Zeit benötige, dann versuche ich, mir diese auch zuzugestehen und erlaube mir, kurz abwesend zu wirken und dann wieder nach außen zu kommen.
Aber wie gesagt, es ist mühsam, und wirklich komplexe Dinge kann ich viel besser zuhause in meinem abgeschlossenen sicheren Raum aufnehmen, sodass ich zum Beispiel an der Uni den Stoff erst wirklich begreifen kann, wenn ich ihn selber für mich durchgehe, oder anhand von Büchern, die mir die Zeit lassen, alles für mich zu übersetzen. Oder wenn ich in einer anonymen Vorlesung sitze und mich da abkapsele und für mich selber mitdenke.
Und bei emotionalen Dingen ist es auch so, wenn ich in einer ruhigen Umgebung für mich sitze und schriftlich kommuniziere, dann kann ich damit sehr viel besser umgehen, als wenn jemand es mir persönlich sagt. Weil ich dann nicht versuche, gleichzeitig auch zu senden und anwesend und mitfühlend zu wirken, sondern nach außen hin erst einmal ganz kurz komplett abschalten kann.
Ich denke auch, dass ich mich deshalb nach langen sozialen Ereignissen sehr erschöpft und ausgelaugt fühle und erst einmal viel Zeit zum herunterkommen brauche.
Weil dann das, was ich nach außen sende, und das, was bei mir ankommt, sozusagen auf einer Autobahn hin und her rasen muss, die nur eine Fahrspur hat, und alles deshalb da entlang rasen muss, damit danach die Fahrtrichtung gewechselt werden kann.
Ich weiß nicht, ob das jetzt alles irgendwie in die neuropsychologischen Theorien hineinpasst und ob sich da überhaupt jemand wiederfinden kann.
Wenn ja, dann freue ich mich, dass ich vielleicht Gedankenanstöße geben kann, und hoffe, dass jemand meine Gedanken noch einmal für sich ordnen kann und in einen auch für ihn gültigen Zusammenhang bringt.
Dieser Dialog hilft auf jedenfall mir und vielleicht auch anderen, alles besser zu verstehen.
Danke noch einmal, dass du hier diese Plattform bietest und den Dialog begonnen hast.
Für alle drei Themen beobachte ich, dass es mit enormer Zeitverzögerung, Abgleich von Erfahrungen und der Tagesverfassung einhergeht.
Zum Thema „exekutive Funktionen“ schließe ich mich voll umfänglich an. Ich möchte aber noch ergänzen, dass das Einhalten des Planes enorm wichtig ist. Ein Umswitchen (weil der Supermarkt umgeräumt wurde, ein Lehrer erkrankt und Vertretung stattfindet) ist enorm Kraftraubend.
Bei der „Theorie of Mind“
„Das Wissen darüber, dass jede Person Gedanken und Gefühle hat und dass diese sich von denen anderer Personen unterscheiden können, bildet die Grundlage für das Verstehen sozialer Situationen (Colle et al. 2006). “
dieses Wissen ist oft durchaus vorhanden. Aber die „Anderen“ sind so unwahrscheinlich schnell und kaum berechenbar. Handeln also nicht immer identisch, obwohl das gesamte Auftreten identisch wirkt.
Die kognitive Empathie, ist ein Punkt, der so oft vernachlässigt wird. Ich habe von autistischen Menschen mehr Empathie erfahren, als von den „schnell Reagierern“. Sie ist intensiver und überlegter, sowie handlungsorientiert. So mein Empfinden.
Hallo, Alexsander,
danke für deine Beiträge. Du hast geschrieben:
“Wenn jemand meine Reaktionen vorhersehen kann weiß er auch wie er eine von ihm gewünschte Reaktion provozieren kann. Vorhersehbar zu sein empfinde ich als sehr unangenehm. Und weil ich das für mich so empfinde werde ich auch nicht versuchen jemand anderen und seine Reaktionen vorherzusehen.”
Ich denke, vielen geht es so. Doch dann freut sich ein Großteil von ihnen auch über Personalisierung. Beispielsweise bietet Amazon Produkte an, die andere Menschen auch interessiert hat. Anna Biselli hat darüber eine Artikelreihe auf Netzpolitik.org verfasst: https://netzpolitik.org/tag/how-to-analyze-everyone/ (insbes. Teil IV).
Ist das nicht auch ein Voraussehen der Wünsche/Reaktion von Kunden? Aufgrund großer Datenmengen (“Big Data”) lassen sich Verhaltensweisen ableiten und Menschen manipulieren. Daran stören sich nur einige Datenschützer und NGOs. Der breite Teil der Bevölkerung findet das spitze.
Oder auch Google’s Werbenetzwerk. Hast du dir einmal angeschaut, was mit Google Analytics alles verarbeitet wird? Die Ergebnisse fließen dann u.a. in Google AdWords. Viele Social-Media-Berater empfehlen die Werkzeuge auch noch.
Wie denkst du darüber? Brauchst du mehr Informationen? Meld dich einfach 🙂
Und entschuldige, dass ich deinen Beitrag hier ein wenig entführt habe. Der Punkt oben sprang mich an.
[…] Knauerhase hat hierzu bereits 2014 ausführlich geschildert, wie es die Fachwelt wahrnimmt und wie es sich aus der Sicht eines […]