Seitdem ich offen über Autismus und das ich selbst Autist bin spreche, bekomme ich immer wieder und in regelmäßigen Abständen eine Reaktion: „Das kenne ich auch!“ oder „Das geht nicht autistischen Menschen aber auch so.“. Nun hat es mit so einem Auch-Satz aber mehr auf sich als man auf den ersten Blick denken möchte. Genauer gesagt: er hat zwei Seiten.
Ein „Auch“ ist der erste Schritt zur Inklusion
Schon sehr kurz nachdem ich anfing meinen Autismus zu verarbeiten und so langsam darüber zu schreiben, hatte ich ein Ziel: Die Menschen sollten erkennen, dass Autisten weder Monster noch eine Gefahr für die Gesellschaft sind. Wir sind, wenn man genauer hinschaut, eigentlich ganz normal. Mit der Ausnahme, dass wir viele Sinnesreize wegen unserem mangelnden Filter sehr intensiv wahrnehmen. Und so sind unsere Reaktionen, mögen sie für Menschen die sich mit Autismus nicht auskennen noch so exotisch sein, eigentlich ganze normale menschliche Reaktionen auf Reizüberflutungen. Reaktionen die wohl jeder Mensch so zeigen würde, wenn er denn Sinnesreizen so massiv ausgesetzt wäre wie wir. Mich hat die Aussage „auch“ eigentlich immer gefreut, zeigte sie doch, dass man keine Berührungsängste haben musste wenn es um Autismus und Autisten geht. Jeder Mensch der das versteht trägt dazu bei, dass Autisten ein Stückchen mehr in die Gesellschaft rücken. Ist es nicht das was wir alle wollen? Tja, wenn da nicht das „ja, aber…“ wäre.
Das kenne ich auch, aber….
Schaut man dann jedoch genauer hin, scheitert dieses gewünschte „auch“ an einem entscheidenden Punkt: Dem Verständnis. Ich meine hiermit nicht das mitleidige Verständnis sondern einfach nur den Prozess zu Verstehen warum Autisten so sind wie sie sind. Viele Menschen die meine Texte lesen schalten nach der Erkenntnis „Das kenne ich doch auch“ leider erst einmal ab. Das ist eigentlich auch nicht schlimm. Man muss den Gedanken nur irgendwann fortsetzen. Natürlich kennen viele die von mir beschriebenen Probleme auch. Sie sind nur allzu menschlich. Was dabei vergessen wird, und leider kann man das kaum in Worte fassen, ist die Ausprägung und Intensität dessen was Autisten in den beschriebenen Momenten erleben. Ich versuche das mal in ein Beispiel zu bringen:
Sie gehen, als nichtautistischer Mensch, auf ein Open Air Konzert. Natürlich ist die Musik laut, viele Menschen sind dort vor Ort und selbstverständlich kommt auch irgendwann der Punkt an dem sie sich unter Umständen nicht mehr so ganz 100%tig wohl fühlen. Sie erkennen also das Gefühl aus der Situation heraus.
Ein Autist, und ich spreche da nicht für alle, jeder empfindet das anders, kann die gleichen Gefühle aber schon bei viel weniger Menschen, weniger lauter Musik und z.B. an einem Ort wie einer Fußgängerzone erleben. Würde Sie in einer solchen Situation schon das oben angesprochene Unwohlsein empfinden? Vielen wird es nicht so gehen. Wie man sehen kann: Das Gefühl ist ähnlich, nur bei dem einen tritt es sehr viel früher auf als bei dem anderen.
Ich möchte noch ein weiteres Beispiel bringen um die Falle des „das kenne ich auch“ deutlich zu machen:
Ein Autist sitzt in einer Vorlesung an einer Hochschule. Er konzentriert sich auf die Vorlesung und versucht nach Möglichkeit alles Wichtige mitzubekommen. Neben der eigentlichen Vorlesung nimmt er aber noch viele weitere Dinge wahr: Die Hitze im Raum, die redenden Kommilitonen, das tippen der Nachbarn die mit einem Laptop mitschreiben, den Kommilitonen der ständig auf seinem Kugelschreiber rumdrückt, die SMS die geräuschvoll ankommen und geschrieben werden, den vielleicht muffigen Geruch im Raum, das ticken der Uhr an der Wand und und und. Übertrieben? Nein.
Ein nichtautistischer Student nimmt die Vorlesung wahr, vielleicht noch das neben ihm geredet wird und ihn das in der Konzentration stört. Oftmals ist hier dann aber auch schon Ende. Er blendet, dank seines funktionierenden Reizfilters, alle weiteren Reize schon vor dem bewusstwerden als unwichtig aus.
Mit diesem Beispiel möchte ich aufzeigen das auch die Intensität der Reize die einen Autisten überlasten können eine ganz andere ist. Natürlich kennt jeder den Kommilitonen oder Mitschüler der genau dann quasselt wenn man aufpassen muss. Hier hätten wir wieder so eine Auch-Situation. Bei einem Autisten geht das Ganze aber noch viel weiter. Und wenn man das Beispiel weiterspinnt kann es wie folgt ausgehen:
Durch die ständige und andauernde Reizbelastung der der Autisten nicht ausweichen kann, entsteht oder bahnt sich ein Overload an. Je nach Charakter kann es nun dazu kommen, dass der Autist sich, weil er der Vorlesung folgen möchte, zur Wehr setzt. Was wir dann haben ist der klassische Wutausbruch durch Überlastung. Aus Sicht des Autisten sehr verständlich, aus Sicht aller anderen nicht. Er kommt wie aus heiterem Himmel da allen anderen die massive Reizbelastung nicht klar ist. Es kommt dann zu solchen Reaktionen wie „Wie kann er nur so reagieren bloß weil zwei Kommilitonen sich unterhalten?“.
Mit einem dritten Beispiel möchte ich auch die Folgen bzw. Nachwirkungen solcher Situationen aufzeigen:
Wenn man nun, wie im ersten Beispiel, davon ausgeht, dass ein Autist der Probleme mit Menschenmengen hat schon in einer normal bevölkerten Fußgängerzone Probleme bekommt wird man sicher verstehen, dass er weitaus stressigere Situationen mit noch mehr Menschen meidet. Und selbst wenn er zu dem Open Air Konzert gehen würde, er bräuchte ob der Masse an Reizen die auf ihn einprasseln sehr viel länger um sich wieder von der Reizüberflutung zu erholen. Was nichtautistische Menschen vielleicht einen oder zwei Tage umhaut kann für einen Autisten schon, auch wenn er es freiwillig und gerne macht, so belastend sein, dass er für eine Woche oder noch länger aus seinem Takt raus ist und sich nicht wohl fühlt. Er ist um ein wesentliches mehr erschöpft.
Das zweite Beispiel ist für einen nichtautistischen Menschen ärgerlich und nach einer harten Studienwoche ist sicher auch jeder über das Wochenende froh. Ich selbst konnte nur Vorlesungen an zwei Wochentagen besuchen. Und das waren, je nach Lehrplan, auch keine Tage mit mehr als zwei oder höchstens drei Vorlesungen. Die restlichen Tage brauchte ich um mich zu erholen.
In beiden Beispielen würde wohl sicher jeder meiner Leser sagen: Das kenne ich auch! Zu recht! Vergessen Sie dabei aber bitte nicht, dass Autisten sowohl in der Intensität der Reize wie auch in der Reizschwelle anders reagieren. Und das was sie jeweils erleben viel tiefgreifendere Folgen haben kann. Die Erschöpfung ist wesentlich größer und die Regenerationszeit erheblich länger.
Wenn Sie also meine Erklärungen über Autismus lesen behalten Sie bitte eines im Kopf: Es ist normal und menschlich dass sie vieles auch kennen. Aber bei Autisten haben die beschriebenen Situationen zum einen einen anderen Wirkungsgrad und zum anderen sind die Beeinträchtigungen aufgrund dessen wesentlich stärker. Wenn Sie das im Hinterkopf behalten, wird der Satz „Das kenne ich auch“ zu einem guten Satz der dazu beiträgt das Autisten und die Gesellschaft ein Stückchen mehr zusammenwachsen.
Ein wundervoll auf den Punkt gebrachter Blog, der hoffentlich viele Nicht-Autisten „auch“ ein wenig mehr zum Nachdenken animiert. Genau hier besteht „auch“ für mich als frisch diagnostizierter autistischer Neuling mein Outingproblem in einer nicht autistischen Welt. Die Antworten gehen von: das kenne ich auch; ach, das habe ich auch oder das kennt doch jeder bis hin zu du bist doch deshalb kein Autist, als wäre die für mich befreinste aller Antworten auf dem Weg zur mir selbst, etwas furchtbar Schreckliches. Stattdessen ist es einfach nur furchtbar, schrecklich schön sich endlich nicht mehr ständig rechtfertigen zu müssen, warum man an dieser oder jener Veranstaltung nicht teilnehmen kann!!!
Ein guter Text mit einer wichtigen Aussage! Ich finde dieses massive wehren gegen das „auch“, das ich in anderen Blogs gelesen habe, mittlerweile auch absolut falsch. Es ist einfacher Verständnis zu erreichen, wenn man einen gemeinsamen Ausgangspunkt wählt – und das darf durchaus das „auch“ sein… Differenzen herausstellen kann man dann immer noch.
Das kenn ich auch … 😉 Ich kenn Leute, die unter die Bezeichnung „Hochsensibel“ fallen, klassische HSP. Die dürften bei deinem Blogeintrag dann gleich denken, sie wären auch Autisten … Wie immer ist die Abgrenzung halt schwierig. Insofern würde ich auch immer wieder „das kenn ich auch“ verwenden.
Vielen Dank für diesen Artikel. Ich als angehende Lehrerin, versuche mich „auch“ mit dieser „Krankheit“ oder Diagnose oder wie auch immer man es nennen mag zu beschäftigen. Es ist für Nicht-Autisten wirklich schwer zu verstehen, was die Kinder wie belastet und wie man evtl. gegen eine Reizüberflutung steuern kann. Selbst wenn man dann mal das eine autistische Kind „verstanden“ hat und weiß, wie weit man es belasten kann, ohne dass es überlastet ist, beim nächsten Kind ist das wieder anders und genau das macht MIR Angst. Man kann einfach nicht mehr vom Einheitsbrei ausgehen… Deswegen nochmals vielen Dank für diesen Artikel und die damit verbundene Sensibilisierung!
Vielen Dank für Dein Feedback. Ich kann verstehen, wenn das sehr komplexe Thema Autismus und der Umgang mit autistischen Menschen Angst machen kann. Auch aus diesem Grunde werde ich in Zukunft Vorträge, Gespräche und Beratungen über Autismus anbieten. Auch in Schulen bzw für Lehrer. Ich denke dieser Austausch ist sehr wichtig um Ängste abzubauen und die Arbeit mit autistischen Menschen zu erleichtern.
Bei Interesse: Kontaktdaten stehen im Impressum 🙂
Okay, das merk ich mir! Nachwuchsmäßig bin ich jetzt sowieso erstmal für ne Weile aus dem Schuldienst raus, aber ich behalts im Kopf! ;o) Liebe Grüße und Alles Gute!
Wenn das Wörtchen auch nicht wäre …
Es gibt Tage, da kann ich einfach nicht mehr.
Fangen wir einmal damit an:
Ich leide unter schweren Depressionen. Wenn ich jemandem davon erzähle, dauert es keine drei Sätze, bis ich zu hören bekomme: das kenne ich auch, das habe ich auch ab und zu. Dann reisse ich mich einfach zusammen, stehe auf und mache, was gemacht werden muss.
So oder so ähnlich tönt es mir dann entgegen.
Genau zu dem Zeitpunkt frage ich mich dann: mache ich etwas falsch? Leide ich wirklich unter schweren Depressionen? Oder mache ich aus einer Mücke einen Mammut?
Auf jeden Fall werde ich von einigen meiner Mitmenschen dann so angesehen, als ob ich ein Lügner, oder ein Hypochonder oder noch was schlimmeres wäre.
Eben, das Wörtchen auch.
Wenn mein Selbstbewusstsein mal wieder ganz am Boden ist, stelle ich mich selber in Frage und denke: bin ich wirklich ein Asperger-Autist? Tue ich nur so? Überteibe ich nur alles so weit und habe in Wahrheit gar keine Probleme, gar keine Depressionen, keine Probleme mit meinem Reizfilter???
Es kommt dann für mich der Punkt, so ich zu mir sage: warum soll ich mit den Nicht-Aspergern darüber reden? Die verstehen mich eh nicht, wollen mich vielleicht gar nicht verstehen und das Ganze zieht mich dann eh nur noch weiter runter, so dass es mir am Schluss noch viel schlechter geht.
Dann stehe ich, oder sitze ich da, merke, wie alleine ich unter allen meinen Bekannten bin und stelle fest: doch, ich leide unter schweren Depressionen, weil genau jetzt mich eine überrollt und in ihre Finger bekommen hat.
Dann wären da ja noch die Mitmenschen, die eh alles bezweifeln und in ein Loch ziehen, was mit Psychologie zu tun hat.
Super, vielen Danke, das hilft mir und allen anderen, ganz gross weiter, wenn uns gesagt wird, dass wir gar nichts haben und eigentlich so sind, wie alle anderen.