Ein Problemfeld bei mir, und von anderen Autisten höre ich oft ähnliches, war mein Gefühl für den eigenen Körper. Es ist schwer zu beschreiben, er war da. Ich fühlte auch wenn etwas auf meinen Körper einwirkte. Aber ein richtiges Körpergefühl und das Bewusstsein für einzelne Körperteile war irgendwie nicht vorhanden. Es gab Zeiten, da bin ich ganz unfreiwillig mehrfach Täglich gegen Türrahmen, tief hängende Balken oder einfach nur Möbel gerannt. Besonders unangenehm und häufig hat das meine Zehen betroffen. Ich kann gar nicht mehr zählen wie oft ich mir den einen oder anderen Zeh an was auch immer gestoßen habe. Besonders unpraktisch dabei: Ich laufe zu Hause gerne Barfuß. Kurzum: Ich hatte so manches Mal das Gefühl das ich meine eigenen Körpermaße nicht wirklich kenne. Bei mir kommt noch folgendes Hinzu: Ich muss mich oftmals auf das Laufen konzentrieren. Bin ich abgelenkt, und das passiert bei Autisten durch den mangelnden Reizfilter ja fast dauerhaft, komme ich entweder ins Stolpern oder ich renne eben gegen massive Gegenstände weil ich mal wieder „vergessen“ habe, dass ich da rechts noch einen Arm, oben einen Kopf oder eben unten Füße der Schuhgröße 48/49 habe. Das waren dann immer schmerzhafte Momente die mich daran erinnerten, dass mein Körper doch etwas Fremdes für mich wahr und auch noch ist. Auf die Idee das man das auch ganz einfach mangelndes Körpergefühl oder Körperbewusstsein nennen kann bin ich nicht gekommen.
Das eine funktioniert, das andere nicht
In meiner Reha wollte ich vor allem lernen wie ich besser entspannen kann. Den ganzen Tag und teilweise auch die ganze Nacht auf Anspannung zu sein ist nicht wirklich angenehm. So wurde mir anfangs dann auch autogenes Training als Hilfsmittel angeboten. Was das mit Körpergefühl zu tun hat? Im Nachhinein doch sehr viel. Wer autogenes Training nicht kennt hier eine kurze Beschreibung:
Man legt oder setzt sich in eine für einen selbst angenehme Position, schließt die Augen und hört, zumindest als Anfänger, auf die Stimme des Therapeuten. Er sagt, und das mehrfach nacheinander, gewisse Körperzustände an. Als Beispiel: „Der Arm wird schwer.“ Und da war es wieder mein Problem mit dem Körpergefühl. Der Arm wird schwer? Wieso sollte er? Arm ist Arm. Ich fing an zu grübeln und konnte mir die beschriebenen Zustände einfach nicht vorstellen geschweige denn das Gefühl davon wirklich erspüren. Anders ausgedrückt: Es funktionierte mit meinem Verstand einfach nicht das mir von außen etwas eingeredet wurde. Es war definitiv nicht mein Ding. Aber aufgeben ist nicht und so verbrachte ich die erste Hälfte der Reha, mal mehr und mal weniger entspannt, zweimal die Woche unterm Dach beim autogenen Training.
Das wäre wohl auch weiterhin so geblieben, progressive Muskelentspannung war mehr als überlaufen, wenn nicht alle beim Essen immer von Qi Gong geredet hätten. Sie machten sich zwar mehr lustig über den „esoterischen Quatsch“ aber was juckte mich schon die Meinung anderer? Ich beantragte beim betreuenden Arzt den entsprechenden Kurswechsel und in der dritten Woche war es dann soweit: Ich besuchte den Einführungskurs Qi Gong. Und da autogenes Training mir nicht wirklich etwas gebracht hat konnte es eigentlich nur besser werden. Die Frotzeleien über den Kurs hatte ich zwar im Hinterkopf, aber ich bin bewusst und gezielt ohne Erwartungen oder Vorurteile in den Kurs gestartet. Und was soll ich sagen? Es funktionierte! Ich kam unheimlich entspannt und vor allem vitalisiert aus dem Kurs wieder raus. Qi Gong tat mir gut. Auch wenn, und das muss ich unverhohlen zugeben, das am Anfang nur entspannenden Gymnastik für mich war.
Wenn das Bewusstsein für den Körper zurückkehrt
So machte ich in der zweiten Hälfte der Reha fleißig beim Qi Gong mit und freute mich sogar jedes Mal darauf. Die anderen Teilnehmer konnte ich ganz gut ausblenden, manchmal wohl etwas zu gut! Um mehr zu spüren schloss ich oft meine Augen. Zum Spüren gut, zum Folgen welche Bewegungen man nun machen soll eher schlecht. Zum Leidwesen meiner Kursleiterin die mich nur allzu oft ermahnen musste die Augen zu öffnen. Mir tat die für mich neue Welt Qi Gong so gut, dass ich noch von der Reha aus mir in meiner Umgebung stattfindende Kurse rausgesucht und sogar zwei aufeinanderfolgende gebucht habe. Ein Wagnis von einem 30 Minuten Kurs auf 3 Stunden Gesamt Qi Gong zu gehen. Aber wie ich eben so bin: Wenn dann richtig. Das ich mir damit einen ordentlichen Brocken eingehandelt hatte war mir in der Reha noch nicht bewusst. Eines hatte mit das Programm des Volksbildungswerks vor Ort nämlich verschwiegen: Der zweite Kurs war für Fortgeschrittene. Rückblickend war es schon anstrengend, aber ich habe durchgehalten und mache nun seit mehr als 2 Jahren aktiv Qi Gong. Dazu kam dann später auch ein Tai Chi Kurs so dass ich von Mittwoch Abends bis Donnerstags Mittags, natürlich unterbrochen von der Nacht dazwischen, ein einem Rutsch aktiv mit meinem Körpergefühl und –Bewusstsein beschäftigt war. Mir persönlich hat es viel gebracht. Zum einen spüre ich kleinste Bewegungen im Oberkörper mittlerweile sehr genau. Ich kann Bewegungen auch viel bewusster durchführen. Um ein Beispiel zu nennen: Man kann, wenn man denn möchte, sehr viel Zeit investieren um ganz bewusst zu gehen. Einen Schritt nach dem anderen und alle ganz kontrolliert und bewusst gesetzt. Alleine das Gefühl das man dabei bekommen kann ist etwas Besonderes. Was sich ebenfalls in meiner Gefühlswelt niedergeschlagen hat ist die innere Ästhetik einer Bewegung. Je mehr man sie fließen lässt und je weniger man darüber nachdenkt, umso ästhetischer wird diese Bewegung auch auf die Umwelt wirken. Es ist ein schönes Gefühl wenn man wieder spüren kann, dass der Körper seine eigenen Bewegungen hat.
Zum anderen, und das ist nun sicherlich Qi Gong und Tai Chi spezifisch, habe ich tatsächlich gelernt mein Qi, in Grundzügen, zu leiten. Ich kann, und das hat sehr lange gedauert, meine Achtsamkeit tatsächlich in gewisse Körperregionen leiten und eben dorthin spüren. Ein tolles Gefühl das sich bei mir wohl nie eingestellt hätte, wenn ich von Anfang an Qi Gong als esoterischen Humbug abgetan hätte. Und mit diesem Gefühl ist bei mir Qi Gong auch von der reinen Gymnastik und Entspannung zu etwas Besonderem geworden.
Dran glauben oder nicht
Aber ganz egal ob man nun an die Philosophie hinter Qi Gong und Tai Chi glaubt oder nicht: Mir hat es geholfen mein Körperbewusstsein zu entwickeln. Die Achtsamkeit für den eigenen Körper ist, betrachtet man die Überlastungszustände unter denen ich als Autist wirklich leide, ein Geschenk. Ich kann nun viel früher spüren wenn mich etwas zu sehr belastet und versuchen eben diesen Zustand abzustellen. Ich möchte mit meiner Erfahrung die ich mit Qi Gong und Tai Chi gemacht habe nun auch nicht behaupten, dass eben genau diese Methoden für Autisten besonders geeignet sind. Was man daraus aber ableiten kann und soll: Es kann für einen Autisten sehr hilfreich sein, wenn er sich eine Methode aussucht an der er Spaß hat und bei der es um Achtsamkeit und Körperbewusstsein geht. Da ist es egal ob es sich um Qi Gong, Tai Chi, Yoga, Karate, Judo Kendo oder Kyudo handelt. Wichtig ist dass es dem Autisten Spaß macht und er unvoreingenommen an das Projekt herangeht. Nichts erwarten und einfach wirken lassen! Ein Geheimrezept das mir sehr geholfen hat!
Man sollte bei solchen traditionellen Verfahrensweisen immer etwas Vosicht walten lassen. Natürlich fördert Qigong ähnlich wie Yoga und andere Konzentrationsübungen mit Gymnastik und Meditation in Verbindung mit der entsprechenden persönlichen Motivation das Körpergefühl, das gerade in dem von Dir beschriebenen Fall sehr hilfreich ist oder sein kann. Es gibt aber ein paar Einwände, die nicht unbeachtet bleiben sollten.
Zum EInen ist der Anteil der Gymnastik häufig nach alten Lehren entstanden und könnte nach heutigen Erkenntnissen durchaus dann Schäden verursachen, wenn sie dem heutigen Wissen nicht angepasst wurde. Gerade den Chinesen war traditionell das Öffnen von Leichen verboten, insofern waren deren Erkenntnisse über den wahren Körperaufbau extremst beschränkt. Die von Dir beschriebenen Erfolge wären demzufolge auch durch eine Physiotherapie auf professionellem Wege und ohne den Gefahren von Schäden genauso erreichbar (wobei ich nicht weiss, ob die Kurse, an denen Du teilgenommen hast, nicht sowieso nur von Physiotherapeuten durchgeführt werden dürfen. Dann wäre es ja in Ordnung.)
Zum Anderen wird es bei Qigong dann eindeutig esoterisch, wenn es eine Stufe weiter geht und durch Meditation und anderen Übungen „supraphysikalisches Qi“ erzeugt werden soll, was nichts weiter als religiöser oder pseudowissenschaftlicher Unsinn ist.
Und als Drittes soll es sogar ein Krankheitsbild geben, dass auf Qigong zurück zu führen ist, nämlich eine „Qi Gong-Induced Psychosis“, welche bei entsprechend dafür anfälligen Personen eintreten kann. Siehe hierzu auch: http://psiram.com/ge/index.php/Qigong
Bitte keine Diskussionen an dieser Stelle ob QiGong nun wirksam ist oder nicht. Das soll und kann jeder für sich selbst entscheiden. Mir hat es geholfen und das ist das was für mich zählt.
Ich praktiziere die einzige in chinesischen Kliniken zugelassene QiGong Art. Diese wird in den Kliniken dort offiziell praktiziert und ist anerkannt.
Zur TCM kann man stehen wie man möchte, ich empfinde es aber als anmaßend von Dir etwas das seit Ewigkeiten in einer anderen Kultur praktiziert wird pauschal als Quacksalberei zu bezeichnen.
In meinem Blogpost ging es übrigens in keinster Weise darum Werbung für TaiChi oder Qigong zu machen. Es ging mir um den Impuls das man auch mit Spaß etwas an seinem Körpergefühl und -bewusstsein machen kann. Und das es eben nicht immer die „klassische“ vom Arzt verordnete Physiotherapie sein muss. Wie man etwas für sein Körpergefühl macht bleibt jedem offen. Der eine geht zum Yoga, der nächste zum Pilates, wieder welche zum Karate oder Judo. Entscheiden muss das schon jeder selbst.
Etwas anmaßend zu finden oder ein seit Ewigkeiten praktizierter Vorgang ist kein Argument für dessen Wirksamkeit. Die findet sich in wissenschaftlichen Studien, und die fallen im Prinzip durchweg gleich negativ aus. Ich habe auch nichts weiter als Vorsichtigkeit empfohlen und diese Empfehlung auch sachlich begründet. Was Du jedoch letztendlich machst und was Dir hilft bleibt Dir selbst überlassen.
Lass dich nicht irre machen. „Qi Gong Induced Psychosis ist genau so ein Quatsch wie Burnout durch zuviel Yoga (http://www.der-postillon.com/2011/11/mann-erleidet-burnout-syndrom-wegen-zu.html). Wobei es beim „Postillon“ Satire ist, bei Psiram aber bitterer Ernst. Die schießen gegen alles, was „alternativ“ oder „esoterisch“ aussieht. Und gehen dabei nicht sehr fein mit ihren „Gegnern“ um, abgesehen davon, dass hinter ihrer Polemik oft noch weniger steckt als hinter der sogenannten „Esoterik“, die sie zu bekämpfen sich vorgenommen haben. Sachlich geht jedenfalls anders.
Nochwas @Nesselsetzer: man hüte sich vor Ferndiagnosen. Ein Satz wie „Die von Dir beschriebenen Erfolge wären demzufolge auch durch eine Physiotherapie auf professionellem Wege und ohne den Gefahren von Schäden genauso erreichbar“ stößt mir da sauer auf. Woher willst du das denn wissen? Du kannst nicht gegen Pseudowissenschaftlichkeit schreiben und dann unwissenschaftlich Ferndiagnosen stellen.
@Bernhard
Ob Dir das sauer aufstößt, kratzt mich recht wenig. Meine Aussagen sind keine Ferndiagnosen. Über Physiotherapien kannst du in Pubmed nachlesen, über Qigong auch in Wiki. Die Wortschöpfung selbst ist erst 60 Jahre alt und basiert auf religiöser Meditation und altchinesischer Medizin, der heute so beliebten TCM, die zu 99% aus Quacksalberei besteht. Dennoch finde ich die gymnastischen und meditativen Übungen nicht grundsätzlich schlecht, man sollte nur aufpassen ob der möglichen Schäden. Und im Prinzip gilt, dass jeder das macht, was ihm gut bekommt.
Und wie sich sachlich und unsachlich unterscheidet, habe ich mal hier beschrieben:
http://nesselsetzer.wordpress.com/2012/06/21/wissenschaft-vs-erfahrung-wie-funktioniert-wissenschaft/
oder auch hier:
http://nesselsetzer.wordpress.com/2013/04/20/todliche-erfahrungen/
Nur weil etwas Physiotherapie heißt, muss es noch lange nicht gut und hilfreich sein. Wir sind gut gefahren mit nicht künstlichen Bewegungen wie reiten, tanzen, bergwandern, radfahren….und ich auch sehr intensiv virle Jahre mit Karate.
Zu viele ( langweilige) Physiotherapiestunden haben wir mitgemacht.
Wenn es nur um Körpergefühl geht, ist jeder Sport gut.
Wenn man krank ist, ist es erwas anderes.
@quergedachtes: ich finde toll, dass du das machst. Ich mag Qi Gong auch sehr gern, wenn ich auch nur täglich 1 kleine Übung mache:
http://leidenschaftlichwidersynnig.wordpress.com/2012/07/01/qi-gong-auf-dem-balkon/
üben üben üben, das gilt auch für uns, sogenannten gesunden. Wenn ich nichts tue spüre auch ich meinen Körper sehr schlecht. Ich bewundere Deine Leistung – danke ich habe verstanden
Liebe Grüsse zentao
@Nesselsetzer
was Du hier schreibst ist wieder so ein Schwarz Weiss Denken, wo es nichts dazwischen gibt. Es braucht beim Qi Gong oder Yoga oder Zen und so weiter – da braucht es keinen Glauben – nur Erfahrung – die Erfahrung des tun – was du schreibst ist voller Angst vor dem Unbekannten. Die Angst von Deinem Ego. Warum probierst Du es einfach mal aus – aber bitte ohne Vorurteil. lass Dich einfach darauf ein. Ich Denke Du hast Dich mit Deinem Komentar wieder einmal in die Nesseln gesetzt.
Liebe Grüsse zentao
@Zentao
Auch Dir seien die beiden von mir erwähnten Artikel im anderen Kommentar an´s Herz gelegt, und wenn Du mit „dazwischen“ etwas transzendentes meinst, das wurde alles versucht, und ich erkannte nichts weiter als leere Phrasen, wenn man ganz genau hinschaut. Die meisten schauen lieber nicht ganz genau hin, weil dann alle Gebilde einstürzen. Aber ich glaube nicht, dass dies Thema des Artikels von Quergedachtes war.
Mein Name ist Programm 😉