Ich möchte nachfolgend exemplarisch auf zwei Therapieformen eingehen, die gerne bei Autismus empfohlen werden. Beide sind jedoch unter Autisten sehr umstritten und werden teilweise als massiv einschränkend empfunden. Das ist, ob der vermeintlich sichtbaren Erfolge der Therapien, oftmals für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Ich versuche, ganz nach meinem Motto: Lernen durch Erklären, dass für alle nichtautistischen Menschen mal aufzuschlüsseln.

ABArtig

Man kann es vielleicht schon am Titel erkennen: Nachfolgend geht es um die sogenannte Applied Behavior Analysis oder kurz ABA. Was muss man sich darunter vorstellen? Es geht, im Prinzip darum erwünschtes Verhalten zu verstärken und unerwünschtes Verhalten zu vermeiden. Auf den ersten Blick sicher kein schlechter Ansatz wenn man bedenkt, dass Autisten fast immer Probleme mit dem von der Umwelt als angemessenen empfundenen Umgang mit der Gesellschaft haben. ABA ist sogar so effektiv, dass man erste, in den Augen der Eltern sogar undenkbare, Erfolge teilweise innerhalb weniger Wochen erzielen kann. Was den ersten Eindruck jedoch trübt, ist die Art und Weise wie dieses erwünschte Verhalten erzeugt wird. Haben Sie Haustiere oder schon einmal etwas vom „Klickern“ gehört? ABA kommt dem recht nahe, nur dass es sich hierbei um Menschen handelt und diese auch nicht dem Training ausweichen können. Sie werden streng diszipliniert zum Training angehalten. Jedes Haustier mit dem man klickert wird einem ausweichen und sich verweigern wenn es keinen Spaß mehr an den Übungen hat. Etwas das ein autistisches Kind so nicht kann. Weder körperlich, Kinder sind zu schwach, noch verbal – wenn sie nicht sprechen – oder gar emotional. Ausweichendes Verhalten ist nämlich unerwünscht und wird sofort wieder in erwünschte Bahnen gelenkt. Recht seltsam mutet dann auch die positive Verstärkung von erwünschtem verhalten an: Mal wird diese Verstärkung durch ein Leckerli erreicht, mal auch durch sehr übertriebene positive Reaktion seitens der trainierenden Eltern.

ABA beruht übrigens im Kern auf der, in meinen Augen mehr als falschen, Ansicht, dass Kinder mit Autismus nicht von sich aus lernen können. Man muss, folgt man dieser Ansicht, also dem Kind alles vorgeben und das dann so verstärken, dass sich –  ganz nach Pawlow – ein automatisiertes Verhalten einstellt das von der Umgebung erwünscht ist. Wieso spricht man autistischen Menschen die Fähigkeit zu lernen ab? Weiß man dies? Es ist wohl viel mehr die Annahme dass es so sein muss, weil man sich das Verhalten von Autisten ansonsten nicht anders zu erklären vermag. Das alleine ist schon traurig, unerträglich für mich wird es jedoch, wenn man diesen abgesprochenen Lerneffekt durch schon roboterhaftes oder programmiertes Verhalten ersetzt. „Schau mich an!“ ist einer der noch am häufigsten Befehle die während eines ABA Trainings ausgesprochen wird. Das passiert solange, bis das Kind diesen Befehl auch ausführt. Gerade durch das Umlenken der Aufmerksamkeit und das gezielte fixieren auf die Anweisung wird hier ein Automatismus erzeugt. Das Kind wird nicht zum Elternteil schauen weil es das möchte, sondern weil es sich entweder eine Belohnung erwartet oder einfach nur weiß: Ich werde solange damit konfrontiert bis ich es tue. Also macht man es eben. Warum ein autistisches Kind unter Umständen Probleme hat anderen Menschen in die Augen zu schauen wird bei dieser Therapieform gänzlich außer Acht gelassen. Was zählt ist einzig, dass das Kind funktioniert. Je schneller und deutlicher umso besser. Natürlich ist das eine sehr effektive Methode um ein gesellschaftskonformes Verhalten zu erreichen. Eltern sehen schnell vermeintliche Erfolge und damit auch einen Ausweg aus der für sie unerträglichen Situation Autismus. Wenn man jedoch die Bedürfnisse von autistischen Menschen übergeht und nicht versteht warum sie sich so verhalten wie sie es eben tun wird man nur eines erhalten: Einen Menschen der in der Gesellschaft zwar funktioniert, aber ansonsten innerlich wahrscheinlich schon längst ge- und zerbrochen ist. Die eigenen Bedürfnisse werden durch solche Therapien in den Hintergrund gerückt, der Autist verbiegt sich um den Ansprüchen gerecht zu werden und mit viel Glück endet das Ganze dann nur ein einem Burnout weil der Autist an seinem Leben und dem antrainierten verzweifelt und letztendlich nicht einmal weiß wieso das so ist.

Um nochmal auf die Funktionsweise dieser Therapie zurück zu kommen: Sie entspricht direkt ausgedrückt dem Klickern bei Tieren! Möchte man es noch direkter Ausdrücken: Hier werden Menschen dazu erzogen auf Befehle von außen mit einem vorgegebenen verhalten zu reagieren. Wieso sie das tun wird ihnen wohl in den wenigsten Fällen selbst klar sein.

ABA ist eine Konditionierung die die Bedürfnisse der therapierten Autisten hinten anstellt und die vermeintlichen Erfolge in den Vordergrund rückt. Das ganze wird förmlich erzwungen, da der Autist der Therapie nicht ausweichen kann und auch nicht soll. Nicht umsonst wird diese Form der Therapie für den frühestmöglichen Einsatz bei Autismus empfohlen. Eben bei den autistischen Menschen die sich am wenigsten wehren können.

Aber nicht nur autistische Kinder wären mit ABA überfordert. Schulkinder in der Grundschule haben selten mehr als 6 Schulstunden. Dazwischen Pausen die sie auch dringend brauchen. Dazu kommt: Selbst in der Schule kann ein Kind mal kurz abschalten, es ist nicht immer direkt gefordert. Betrachtet man nun ABA findet man folgendes Bild: Das Training findet meistens über mehrere Stunden statt. Ein Ausweichen ist nicht möglich, da die Kinder sofort zurückgeholt werden. Sie sind also über Stunden hinweg, fast Pausenlos, direkt angesprochen und gefordert! Bedenkt man noch, dass die Förderung durch ABA möglichst früh einsetzen soll und es sich oftmals um Kinder weit vor dem Einschulungsalter handelt, muss man sich schon fragen was den autistischen Kindern da abverlangt wird. Etwas das man jedem anderen Kind nicht zumuten würde!

Trauriges Tüpfelchen auf dieser Therapie ist der Umstand, dass Eltern für Seminare die ihnen die Vorgehensweise von ABA beibringen sollen nicht selten 5-stellige Summen bezahlen müssen. Verständlich wenn man bedenkt was Eltern sich für ihre Kinder wünschen und welche Hoffnung sie in die möglichen Fortschritte legen. Aber ist es das wert? Schnelle Erfolge auf Kosten der Psyche der Autisten?

Ich halte Dich fest!

Ähnlich umstritten ist die sogenannte Festhaltetherapie. Sie soll, optimaler weise, durch intensives und aggressionsfreies Festhalten Bindungsstörungen auflösen. Unter anderem für Menschen mit Autismus entwickelt, wird diese Art der Therapie heute bei allen Menschen und auch bei erwachsenen praktiziert.

Befasst man sich etwas genauer mit dieser Therapieform, wird man folgenden idealen Anlauf vorfinden:

Zwei Menschen umarmen sich gegenseitig und schauen sich dabei in die Augen. Mit Hilfe dieser Konfrontation mit dem anderen Menschen sollen negative Gefühle, Ängste und Aggressionen nach außen gebracht werden. Und das solange bis sich diese negativen Gefühle auflösen und die Umarmung zu einer liebevollen und positiven Umarmung wird.

Soweit die Theorie die, ähnlich zu anderen Therapiemethoden, sicher auch auf den ersten Blick in der Praxis sicher gut funktioniert. Aber was passiert da wirklich?

Man wird solange festgehalten und damit eigentlich beengt und fixiert, bis eben diese negativen Gefühle die man hierbei empfindet offen ausbrechen. Das kann durch Weinen, Schreien oder Schimpfen passieren. Die Umarmung wird aber optimaler weise nicht gelöst egal was der umarmte macht. Man hat also einen Menschen der, ich würde sagen in den meisten Fällen, gegen seinen Willen von einer bekannten (Familie) oder fremden Person (dem Therapeuten) in eine ungewollte Nähe gedrängt wird. Betrachtet man nun das Modell der unterschiedlichen persönlichen Zonen (Öffentliche, persönliche und intime Zone) die jeder Mensch hat, ist dies ein massiver Eingriff in die intime Zone eines Menschen. Es sollte jedem Menschen klar sein, dass dies ein einschneidender Eingriff in das Leben des anderen Menschen ist. Wenn man bedenkt, dass es sich hierbei oftmals um Kinder handelt die sich gegenüber Erwachsenen Menschen erwehren müssen ist das schon eine heftige Form der Therapie. Aber weiter im Ablauf: Man wird also fixiert und soll dem Gegenüber in die Augen schauen. Das dabei negative Gefühle entstehen sollte eigentlich jedem klar sein. Man wird sich wehren, verbal und körperlich. Die Fixierung jedoch soll dabei nicht gelöst werden. Was passiert wenn man gegen seinen Willen festgehalten wird und jeglicher Widerstand keinen Erfolg hat? Richtig: Man weint. Und später irgendwann gibt man den Widerstand auf. Das Ziel der Therapie, aus einer erzwungenen Umarmung wird eine als liebevoll beschriebene. In meinen Augen jedoch, gerade wenn man betrachtet was in dem Menschen vorgeht, ist das weniger ein liebevolles umarmen sondern mehr ein gebrochenes zusammensacken. Man ergibt sich der Situation und leistet keinen Widerstand mehr. Zutiefst menschlich. Was passiert also bei dieser Therapie? Menschen werden gebrochen damit sie Nähe zu anderen Menschen dulden und fühlen können.

Soweit nur das was ein nichtautistischer Mensch dabei empfinden kann. Wie sieht es jedoch mit Autisten aus? Zum einen ist ein Eingriff in die intime Distanzzone von Autisten ein äußerst unangenehmer Vorgang. Gerade wenn Autisten Probleme mit Berührungen haben wird dies zu einem beengenden und verletzenden Ereignis. Einem Menschen der einen derart einschränkt noch in die Augen schauen zu müssen ist dann ein weiterer Punkt der Autisten über die Maßen hinweg belastet. Autisten werden mit dieser Therapie also ganz besonders bedrängt und eingeschränkt. Und das ohne für sie erkennbaren Grund und vielmehr aus dem Wunsch der Angehörigen heraus, dass das Kind sie in die Arme nimmt. Eine unbeschreibliche Qual zugunsten einer weit verbreiteten Kopplung von Umarmung und Liebe.

An dieser Stelle muss ich aber, gerade in Bezug auf Autismus, noch etwas Wichtiges erwähnen: Eine Umarmung bzw. ein Festhalten kann für einen Autisten auch beruhigend sein. Dieses Festhalten ist dann aber nur in passenden Situationen wie z.B. einer Stresssituation angesagt und eben auch nur wenn der betreffende Autist das als beruhigend empfindet. Hier wird kein Zwang angewandt, auch ein Augenkontakt muss nicht erfolgen. Es dient einzig dem runterkommen für die betreffende Person und ist dann in diesem Fall eine notwendige und sehr sinnvolle Hilfestellung.

Wozu das Ganze?

Die Frage die sich mir bei allem stellt: Wozu wird Autisten das Ganze zugemutet? Offenbar aus einem falsch verstandenen Weltbild heraus. Mit ABA sollen Autisten auf das wirkliche Leben vorbereitet werden damit sie selbiges möglichst unbeschadet überstehen. Auf Kosten der Bedürfnisse und der Psyche der Autisten. Ist damit etwas gewonnen? Braucht die Welt wirklich dressierte und roboterartig handelnde Autisten? Auf der anderen Seite ist der Wunsch nach Liebe vom autistischen Kind wohl so groß, dass Umarmungen erzwungen werden. Als wäre eine Umarmung das einzige Zeichen das ein Mensch einen anderen liebt. Autisten können lernen sich in der Gesellschaft zu bewegen und, je nach Ausprägung des Autismus, ein möglichst normales Leben zu führen. Zumindest ein bestmögliches Leben. Und Angehörige können ebenso lernen, dass Liebe etwas ist das sich auf vielfältige Art und Weise ausdrücken lässt und das eine Umarmung oder körperliche Nähe nicht der einzige Weg sind. Grundlage für all diese Erfolge wäre nur eines: Das Verständnis für Autismus und die andere Wahrnehmung. Es könnte so leicht sein.