Oder: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!

Es sind nun gerade einmal 6 Wochen seit unserem Protest gegen die Medienberichterstattung in Bezug auf Autismus vergangen. In der Zwischenzeit war es recht ruhig. Waren wir erfolgreich?

Spiegel Online hat vielen Autisten versprochen, dass sie einen weiteren Bericht über Autismus bringen möchten. Dieser ist nun heute erschienen. Drei Autisten und die Eltern einer Autistin beschreiben ihr Leben mit Autismus. Ich finde es gut, dass Autisten selbst zu Wort kommen. Soweit so gut.

Was mir sofort aufgefallen ist: Es sind letztendlich die Autisten die diesen Artikel geschrieben haben. große Teile bestehen aus Zitaten. Damit macht sich SPON natürlich am wenigsten angreifbar, ich finde aber auch das sie sich ein wenig aus der Verantwortung stehlen. Erwartet hätte ich persönlich einen redaktionellen Artikel der klar mit Vorurteilen aufräumt. Passend dazu dann Aussagen von Autisten zu gewissen Vorurteilen. Auch bezugnehmend auf die Kritikpunkte die wir im Dezember angesprochen haben. Dies ist leider ausgeblieben. Schade!

Die Überschrift zum ersten Teil „Oft wünschte ich, die Menschen wären nummeriert“ ist in meinen Augen sehr unglücklich gewählt. Zum einen weil Autisten hier wieder in den Bereich des Mathe- und Zahlengenies geschoben werden. Dies könnte man durch einen einfachen Zusatz dass alle Autisten anders sind eigentlich schon umschiffen. Zum anderen, und das ist etwas ganz persönliches, stört mich die Verknüpfung von Menschen mit Nummern. Ist es nicht das was unsere Gesellschaft eigentlich im inneren ihres Herzens schon massiv stört? Wir sind nur noch eine Nummer. Eine Steuernummer, eine Sozialversicherungsnummer und eine Nummer  auf den „Wartekärtchen“ bei vielen Dienstleistern und Behörden. Mit Nummern verwaltet man. Nummern machen jemanden registrierbar. Nummern sind, zumindest für mich, in Bezug auf Menschen etwas höchst unpersönliches. Für mich ist es ein Widerspruch. Wenn ich in einem Menschen eine Nummer sehe dann wird er zum einen austauschbar, zum anderen nehme ich ihm damit das „menschliche“ seines Wesens. Ich reduziere ihn auf Mathematik. Wie gesagt das ist meine persönliche Sichtweise und das was mich an diesem Artikel stört. Es ist nicht der Inhalt, es ist die Betonung von in meinen Augen unglücklichen Aussagen. Aber alles in Allem: Ein Artikel der nicht viel falsch macht und machen kann.

Oder um es zuversichtlich auszudrücken: Ein Schritt nach vorne!

Ganz im Gegenteil zu einem weiteren Artikel der keine halbe Stunde später erschienen ist : Autismus: Leben in einer eigenen Welt

Wie oft müssen wir es denn noch erklären? Autisten leben nicht in einer eigenen Welt! Ich habe dazu auch schon gebloggt, ein Beitrag dazu ist hier zu finden. Ist dieser Mythos nicht langsam ausgelutscht und als solcher enttarnt?  Wieder ist zu erkennen: Mit der Wahl eines vermeintlich guten Titels kann man sich viel versauen! Der Artikel besteht, wenn ich das richtig erkannt habe, aus einem Text von Autismus Deutschland e.V. Auch hier wieder: Keine redaktionelle Arbeit, es wurde nur kopiert. Schade! Ist es denn so mühsam sich mal hinzusetzen und einen sachlich guten und informativen Artikel über Autismus selbst zu verfassen? Zumal in diesem Text mehr die Symptome als die Ursachen dafür beschrieben werden. Ob man das dann Fakten nennen kann: Ich weiß es ehrlicherweise gesagt nicht! Alles in Allem kann man nicht über Autismus aufklären wenn man sich nur den Symptomen und Fakten widmet. Verstehen kann man Autismus erst, wenn man versteht warum wir so sind wie wir sind. Und das fällt leider bei den meisten Berichterstattungen sofort hinten runter. Alles in Allem ist das eine vertane Chance.

Hart aber ehrlich: Ein Schritt zurück! Wir sind also wieder dort wo wir schon im Dezember waren.

Kommen wir zu einem anderen Fall. Hier wird mir übel, was beim Amoklauf von Newtown medial schief gegangen ist kam wohl bei den wenigsten Medien auch wirklich an!

Die Münchner Abendzeitung berichtet zum Mordfall Katrin M.:

Marco B. war extrem in sich gekehrt und verhaltensauffällig. Wenn er im Treppenhaus gegrüßt wurde, habe er nach unten geblickt und „nie ein Wort gesprochen“, berichtet ein junger Mieter. Helga R. (72) aus dem Nachbarhaus: „Meines Wissens war er krank. Ich glaube, er litt unter Autismus. Er ging auch auf eine Förderschule.“

Und wieder wird ein grausamer Mord in Verbindung mit Autismus gebracht. Nicht etwa aufgrund einer erfolgten Diagnostik. Nein es ist eine 72-jährige Nachbarin die dies gegenüber der Zeitung behauptet hat. Wurde da journalistisch nachgehakt? Recherchiert und genau das gemacht was den sogenannten Qualitätsjournalismus ausmacht? Nein! Wurde auch nur einmal bedacht das evtl. andere Journalisten diese Aussage dann als Fakt verstehen und weiter kommunizieren? Nein!

Davon abgesehen das Autismus niemanden zum Mörder macht zeigt sich hier wieder eines:

Die Medien lernen nicht! Schlagzeilen und Sensationen sind wichtiger als gute Recherche. Umsatzzahlen wichtiger als das gute Gewissen darüber gewissenhaft gearbeitet zu haben. Kollateralschäden? Werden hingenommen. Und überhaupt: Der Leser kann sowieso nicht wissen ob es nun relevant und richtig ist was dort über Mord, Amokläufe und Autismus geschrieben wird. Woher soll er es auch wissen liebe Medien?

Fazit: Die Medien leben beim Thema Autismus wohl wirklich in Ihrer eigenen Welt! Mehrere Schritte rückwärts!

Ich werde nicht aufhören meine Finger genau in solche Wunden zu legen! Einige lernen anscheinend nur wenn es schmerzt.

Ich möchte nochmals an alle Journalisten appellieren: Macht eure Arbeit gewissenhaft! Seid Euch bewusst das alles was Ihr schreibt und medial verbreitet dazu beiträgt das die Gesellschaft sich eine Meinung bildet! Es ist Eure Aufgabe dafür zu sorgen dass dieses Meinungsbild nicht an den Posten „Umsatzzahlen und Profit“ verkauft wird!

Update vom 28.01.2013

Ein Wink mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl sollte für alle Journalisten folgendes sein:

Im Artikel von SpiegelOnline kommen 3 Autisten und eine Familie mit einem autistischen Kind zu Wort. Nur eine Autistin, eine die selbst Vorträge über Autismus hält und fest im Beruf steht, traut sich mit ihrem vollen Namen zum Autismus zu stehen. Alle anderen Namen wurden geändert. Woran liegt es? Wahrscheinlich daran das alle die Befürchtung haben Nachteile durch die Gesellschaft zu erleiden wenn bekannt wird das sie Autisten sind. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich mache den Autisten keinen Vorwurf. Ich kann sie absolut verstehen. Wenn behinderte Menschen sich verstecken müssen weil sie Angst haben läuft etwas falsch in der Gesellschaft! Inklusion funktioniert nur wenn die Gesellschaft umdenkt. Und dafür braucht es auch einen Qualitätsjournalismus der bewusst und verantwortungsvoll berichtet und damit das Gesellschaftsbild mitgestaltet.

Liebe Journalisten: Wenn Ihr also einen Bericht über behinderte oder benachteiligte Menschen schreibt und diese nur mit geändertem Namen genannt werden möchten überlegt mal warum das so ist!

Das wäre ein großer Schritt nach vorne!

Update (2) 28.01.2013

Nun ist innerhalb von 24 Stunden der dritte Artikel über Autismus bei SpiegelOnline erschienen.

Inhaltlich ist er in meinen Augen in Ordnung. Aber auch hier ist die Auswahl der Schlagzeile zu bemängeln: Autismus Therapie: Der Weg ins fast normale Leben!

Zum einen suggeriert dieser Titel das man mit einer Therapie die Auswirkungen des Autismus auf das Leben des Autisten quasi ausgleichen könne. Immerhin lebt man nach der Therapie dann ein fast „normales“ Leben.

Zum anderen schwingt dann doch schon wieder eine Erwartungshaltung der Gesellschaft mit: Du hast ein autistisches Kind? Du bist Autist? Dann mach eine Therapie und alles wird gut. Du willst das nicht? Dann bist Du es selber Schuld und darfst dich nicht beschweren wenn Du Probleme hast!

Ich weiß dass meine Worte hier schon an eine Provokation grenzen. Letztendlich ist es aber doch genau die Gedankenwelt die bei Unbeteiligten und der Gesellschaft entsteht! Muss das wirklich sein?

Das Therapien nicht die Wunderlösung sein können zeigt vielleicht das Beispiel eines erwachsenen Autisten der auch erst später im Leben die Diagnose Autismus bekommen hat:

Das was die angebotenen Therapien vermitteln ist letztendlich der „genormte“ Umgang mit der Gesellschaft. Durch Beispiele und Rollenspiele wird dem Autisten vermittelt wie er sich zu verhalten hat damit er in der Gesellschaft keine Probleme hat. Bei einem erwachsenen Autisten kann man in meinen Augen davon ausgehen, dass er sich diese Verhaltensweise teilweise selbst angeeignet hat. Die bekannte Anpassung an das alltägliche Leben und das Tragen einer Maske eben. Nur lindert das die Probleme die ein solcher Autist im Leben hat? Ist das wirklich eine Lösung die zu einem fast normalen Leben führt? Ich denke davon sollte man nicht ausgehen, würde es doch bedeuten dass sich Autismus irgendwann auswächst. Und das ist nun mal nicht der Fall.

Bleibt auch die Frage: Ist es, wenn man solche Therapien durchlaufen hat, wirklich ein fast normales Leben? Ändern die Therapien etwas an der anderen Wahrnehmung und den Problemen die damit einhergehen? Nein. Sie ändern nur den Umgang damit. Was bleibt ist ein angepasster aber womöglich sehr unglücklicher Autist der sich für ein fast normales Leben tagtäglich verbiegt.

Update (3) 28.01.2013

Ich weiß nicht was heute in der Medienwelt los ist, aber ich komme aus dem Schreiben nicht mehr raus. Gerade eben wurde ich auf einen Artikel des Tagesspiegels aufmerksam:

Inklusion in Italien „Heute kann es sich keiner mehr anders vorstellen“

Ein Artikel über die wirklich vorbildliche Entwicklung von Inklusion in Italien. Dort besuchen schon seit Jahren 99% der behinderten Kinder eine Regelschule.

Der Artikel macht jedoch in meinen Augen massive Fehler die in Deutschland wiederum Vorurteile bestärken.

Niccolò und Marco sind geistig schwer behindert, sie sind Autisten.

Liebe Journalisten: Autismus ist KEINE geistige Behinderung! Eine schwere schon gar nicht! Und wenn eine solche zusätzlich zum Autismus vorliegt: Bitte schreibt es auch so. Es handelt sich dann um eine Mehrfachbehinderung!

Sie werden vielleicht niemals lesen und schreiben lernen. Aber sie sitzen in den Klassen, sie spielen mit den anderen und lernen, sich im Alltag so autonom wie möglich zu bewegen.

Ich finde es bedenklich wenn zwar 99% der behinderten Kinder inklusiv in einer Regelschule beschult werden aber dann solche Aussagen getätigt werden. Jedes Kind hat das Recht darauf das man davon ausgeht das es lernen kann und auch will! Wenn man ihnen das von vorneherein abspricht macht man einen großen Fehler: Man fördert sie nicht. Sie werden aufgegeben und nur beschäftigt! Das kann nicht sein! Sowas kann man nun nicht unter obigem Titel als Vorbild verkaufen!

Wenn wir noch mehr Schritte rückwärts machen landen wir langsam im vorletzten Jahrhundert!

Vor kurzem war ich noch wütend und sauer über solche Fehlleistungen. Langsam schwenkt das in eine tiefe Traurigkeit um.

Update (4) 29.01.2013

Es geht wieder einen Schritt nach vorne! Der erste Protest wurde wohl doch wahrgenommen. Spiegel Online hat den Titel seines Artikels von „Autismus: Leben in einer eigenen Welt“ in „Autismus-Spektrum-Störungen: Die verschiedenen Formen von Autismus“ geändert.

Ein Schritt nach vorne nach einem mächtigen Rückschritt der eigentlich unnötig war. Aber immerhin: Es geht wieder vorwärts!