Jeder Mensch hat sie glaube ich. Die ultimative rote Linie bei der es für andere Menschen nicht ratsam ist das man diese überschreitet. Gestern wurde eine meiner roten Linien wenn schon nicht überschritten aber dennoch betreten. Wie es dazu kam möchte ich in diesem Blogpost beschreiben.

Wie ich schon an dieser Stelle  beschrieben habe, hat der Regionalverband Autismus Mittelfranken einen mutigen Vorstoß gewagt: Sie haben sich offen gegen ABA (Applied Behavior Analysis, Videobeispiel am Ende des Textes) ausgesprochen. Ich unterstütze dieses Vorhaben und bin damit in der autistischen Community bei Weitem nicht alleine. Was ist mittlerweile passiert? Ich hätte erwartet, dass man sachlich an den Verein herantritt und in ein Gespräch kommt das allen Seiten gerecht wird. Ich wurde enttäuscht. Ein kommerzieller Anbieter von ABA machte es sich vielmehr zum Ziel über den Verein, und was ich noch schlimmer finde, über die Autorin der Stellungnahme herzuziehen.

Hier ein paar Zitate:

„Mit dem gleichen Phänomen haben wir es zurzeit in Deutschland zu tun, wo eine kleine aber laute Gruppe von Menschen andere davon überzeugen möchte, dass es keine erdrückenden Nachweise dafür gebe, dass ABA der wirkungsvollste, hilfreichste und ethisch vertretbarste Ansatz bei der Autismus-Intervention sei.“

Schon hier kann man erkennen: Wer anderer Meinung ist, ist unerwünscht. Wo bleibt der Dialog? Wir sind im Übrigen keine kleine Gruppe von Menschen. Wir sind eine ganze Menge Autisten die sich zum Thema „Therapie für Autisten“ äußern. Vielleicht sollte man uns zuhören? Dann müssten wir auch nicht so „laut“ auftreten.

„Dabei suchen sie sich kleine ABA-Bestandteile heraus, formulieren diese um bzw. erläutern diese anders, als dies in wissenschaftlichen Zusammenhängen tatsächlich gelehrt wird. Anschließend ziehen sie unzutreffende Rückschlüsse auf der Grundlage der unzutreffenden Erläuterungen, die nur vordergründig sinnhaft erscheinen. Ein solches Vorgehen, bei dem ein auf wissenschaftlichen Nachweisen beruhender Unterrichtsansatz verunglimpft wird, ist beschämend; insbesondere dann, wenn dadurch einer besonderen Gruppe von Personen eine effektive Unterstützung verwehrt bleibt. „

ABA Bestandteile sind eben Teil von ABA. Und damit muss sich ABA als Ganzes eben auch der Kritik an diesen Bestandteilen aussetzen. Was die Rückschlüsse betrifft: Diese als unzutreffend zurückzuweisen ohne dies zu belegen ist unzureichend. Und warum darf man wissenschaftliche Nachweise nicht anzweifeln? Vor allem dann, wenn die Wissenschaft nur eines beschreibt: Die nach außen hin heraustretende Wirkung. Wie es Autisten dabei geht interessiert die besagte Wissenschaft übrigens wenig. Aber dazu später. Das man teilen der „besonderen Gruppe“, nämlich den Autisten, unterstellt sie würden anderen Autisten die Unterstützung verwehren ist eine Frechheit.

Hier ein paar weitere Formulierungen aus der „Stellungnahme zur Stellungnahme“ die zeigt wie herablassend und unwürdig autistische Kritiker vom System ABA gesehen und behandelt werden:

„Die meisten ABA-Gegner in Deutschland haben keinen Zugang zu den umfassenden Informationen und Forschungen, die für ABA sprechen“

„Sie haben auch nicht die Zeit oder ein Interesse, mit hunderttausenden Familien zu sprechen…“

„Stattdessen verunglimpfen sie lieber etwas, das sie nicht wirklich verstehen.“

„Anschließend stellen sie ihr sehr kleines gegenkulturelles Glaubenssystem als „repräsentativ“ dar, obwohl es das ganz gewiss nicht ist.“

„Oder sollten Sie sich lieber auf eine kleine Minderheit von uninformierten bzw. eher fehlinformierten Menschen verlassen, die sich wütend gegen etwas wenden, was neu oder besser ist als das, was sie selbst zur Verfügung hatten“

Das könnte ich noch beliebig lang weiterführen, besser macht es den zitierten Text nicht.

Eines wird deutlich: Man greift uns Autisten an. Man spricht uns die Fachkompetenz ab und stellt das was wir sagen als „Glaubenssystem“ dar.

Hier sollte sich jeder intelligente Mensch eines fragen: Welchen Beweggrund kann ein kommerzieller Anbieter von ABA Schulungen und Therapien haben so auf eine Kritik zu reagieren? Die Antwort überlasse ich dem geschätzten Leser meines Blogs.

Das war schon hart an der Grenze zur roten Linie, draufgetreten ist aber jemand anderes. Autismus Karlsruhe. Dort veröffentlichte man eine interne Einschätzung des wissenschaftlichen Beirates von Autismus Deutschland zu ABA und verknüpfte diese, wen wundert es, gleich mit der Werbung für die eigene ABA Ausbildung zum zertifizierten Verhaltenstechniker. Verbunden mit der Aufforderung eben diese Einschätzung an möglichst viele Menschen weiterzuleiten. So landete dann diese Email, mit dem Umweg über obigen kommerziellen Anbieter, direkt in einer öffentlichen Mailingliste zum Thema ABA. Anscheinend wird nach jedem Strohhalm gegriffen und jede Chance genutzt ABA positiv dastehen zu lassen.

Wo die Einschätzung des wissenschaftlichen Beirates nun sowieso öffentlich ist, kann ich auch öffentlich darüber schreiben. Dabei muss ich betonen: Der wissenschaftliche Beirat berät den Vorstand von Autismus Deutschland. Das heißt nicht, dass der Vorstand von Autismus Deutschland das dann so übernimmt. Das wird von Autismus Karlsruhe aber gerne so vermischt:

Zitat aus der mittlerweile öffentlichen Email:

„im Anhang finden Sie die Einschätzung des wissenschaftlichen Beirates des Bundesverbandes Autismus Deutschland e.V. bezüglich der “Stellungnahme gegen ABA“ des Autismus Mittelfranken e.V. Der Regionalverband Autismus Karlsruhe e.V. dankt dem wissenschaftlichen Beirat und dem Vorstand von Autismus Deutschland e.V. für die deutlichen Worte.“

 

Ich komme dann zur Einschätzung an sich. Diese hat es in sich und ist, in meinen Augen, ein klarer Angriff gegen Regionalverbände und Autisten die sich gegen ABA äußern.

„Einschätzung des wissenschaftlichen Beirates des Verbandes „Autismus Deutschland e. V.“ zur „Stellungnahme gegen ABA“ des Vereinvorstandes Regionalverband Autismus Mittelfranken e.V.

Der wissenschaftliche Beirat hat die im Internet veröffentlichte „Stellungnahme gegen ABA“ des Vereinvorstandes Regionalverband Autismus Mittelfranken e.V.zur Kenntnis genommen. Die darin enthaltene Darstellung von Autismus sowie der „ABA“ Therapie entsprechen nicht den vom wissenschaftlichen Beirat vertretenen, auf den gegenwärtigen Stand des Wissens abgestimmten Diagnostik- und Therapieansätzen und sind damit für Betroffene und ihre Angehörigen wenig hilfreich und sogar irreführend. Bei der Darstellung des Vereinvorstandes Regionalverband Autismus Mittelfranken e.V. handelt es sich um eine subjektive, polarisierende und fundamentalistisch anmutende Sichtweise eines zudem nicht korrekt beschriebenen Therapieansatzes. Diese Sichtweise lehnen wir aus wissenschaftlicher sowie vielfältiger klinischer Erfahrung klar ab. Eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen derzeit angebotenen Methoden und Therapieprogrammen, die oft unter „ABA“ zusammengefasst werden, ist auch aus unserer Sicht wünschenswert. Die vorliegende Ablehnung, die mit Angst und Schuld auslösenden Begriffen und Zuschreibungen arbeitet, trägt jedoch nicht zu einer konstruktiven kritischen Auseinandersetzung bei. „

EDIT: Der wissenschaftliche Beirat kritisiert nicht nur die Darstellung von ABA durch Autismus Mitelfranken sondern auch die von Autismus. Denkt Euch euren Teil dazu…..

Für Betroffene und Angehörige wäre in meinen Augen eines hilfreich: Endlich die Worte von Autisten wahr und auch ernst zu nehmen. Anstelle dessen werden unsere Bedenken als „wenig hilfreich“ und „Irreführend“ betitelt. Es wird von Angst und Schuld auslösenden Zuschreibungen gesprochen. Ist das verwunderlich, wenn das was über ABA auf der letzten Bundestagung zu sehen war, bei Autisten Angst ausgelöst hat? Ich persönlich wurde durch die gezeigten Filme in einen Shutdown getrieben. Ist es wirklich nicht legitim diese Angst zu verbalisieren? Der Wissenschaftliche Beirat geht sogar so weit, dass er uns als Kritikern dieser Methode „Fundamentalismus“ unterstellt.

Da stellt sich mir ganz klar nur eine Frage: Wie fundamentalistisch muss man selbst sein, um eine Kritik und die Meinung von Menschen die von dem Thema betroffen sind, als fundamentalistisch und damit nicht Diskussionsoffen zu bezeichnen? Wann wird endlich auf unsere Stimmen gehört? Wann bezieht man uns in Diskussionen die Autisten und das Thema Autismus betreffen ein?

Damit komme ich noch einmal zu einem Punkt den ich schon weiter oben angesprochen hatte:

Die wissenschaftliche Evidenz zum Thema ABA.

Bei Evidenz, was nichts anderes als augenscheinlich bedeutet, spielt eines keine Rolle: Was hinter dem beobachteten evidenten Ereignis vorgeht und passiert. Ich bringe mal ein krasses Beispiel: Es ist durchaus evident, dass das Abtrennen des Kopfes vom Restkörper für einen Menschen tödlich ist. Ist es deshalb ethisch vertretbar? Genauso wird aber bei ABA argumentiert: Die Methode ist effizent. Man kann „unerwünschtes Verhalten“ wirksam abstellen. Keine Zweifel. Was wir Autisten dabei aber kritisieren ist die Art wie dies geschieht. Nämlich nicht das man nach den Gründen für dieses Verhalten sucht und dort ansetzt, sondern das man es schlichtweg „wegklickert“. Was also augenscheinlich wirksam und damit evident ist, muss gleichzeitig nicht auch ethisch vertretbar und menschlich sein. Oder gibt es wissenschaftlich anerkannte Veröffentlichungen die sich mit den Auswirkungen für und bei Autisten nach so einer Therapie befassen?

Die Kritikpunkte zu ABA sind übrigens nicht weit hergeholt oder stammen aus Unwissen. Ich konnte selbst bei der Bundestagung von Autismus Deutschland einer Session beiwohnen die sich um ABA drehte. Und ich war entsetzt welche Filme im Rahmen dieser Veranstaltung dort gezeigt wurden. Ist das etwa auch kein „echtes“ oder „richtiges“ ABA? Was mir dort präsentiert wurde und wie man schon fast komödienhaft (ich fand es nicht lustig!) ABA demonstrierte kann man hier nachlesen.

Benjamin Falk hat in seinem Blog Realitaetsfilter die gerne gemachte Verknüpfung von ABA mit Wissenschaft mal genauer untersucht und intensiv recherchiert:

http://blog.realitaetsfilter.com/2015/05/06/die-wissenschaft-von-aba/

Was bleibt und einem in jeder Reaktion entgegenschlägt: Die Meinungsäußerung von Autisten zu ABA wird nicht akzeptiert und diskreditiert. Man hat kein Interesse an der Innensicht. Und das bei einer Thematik von der gerade Autisten besonders betroffen sind. Anstelle das man auf die konkreten Kritikpunkte (Dressur, Abtrainieren von Symptomen und Stimming, Ignoranz den Ursachen gegenüber) eingeht wird ABA gelobt und die Kritiker verdammt.

Was bleibt?

Zum einen meine Meinung: So nicht liebe ABA Befürworter! Ich gebe Euch gerne eine Hausaufgabe: Sagt mir nur ein Beispiel bei dem ABA etwas erreichen kann was z.B. TEACCH nicht kann. Ich bin gespannt!

Des Weiteren Zweifel. Der wissenschaftliche Beirat verweist auf eine in Zukunft erscheinende Leitlinie.

Wir möchten auf die in naher Zukunft erscheinenden, völlig neu überarbeiteten und

aktualisierten Leitlinien der AWMF zur Diagnostik und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen verweisen. Eltern, Betroffenen und allen mit Autismus-Spektrum-Störungen befassten Fachleuten empfehlen wir, sich an diesen Leitlinien zu orientieren, die eine wissenschaftlich fundierte und durch langjährige klinische Erfahrung bewährte Darstellung der Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen und deren Behandlungsmöglichkeiten enthalten und unter Einbezug aller Beteiligten (Wissenschaftler, Kliniker, Berufsverbände, Selbsthilfegruppen u.v.a.) erstellt werden.

Schaut man auf die Seiten der AWMF  findet man folgende Angaben:

Koordination: Prof. Dr. med. Dipl.-theol. Christine Freitag Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

Beide sind Mitglieder im wissenschaftlichen Beirat von Autismus Deutschland der, wie schon beschrieben, Kritik an ABA unter anderem als fundamentalistisch bezeichnet. Ich hoffe die Leitlinien sind nicht von ähnlichem Gedankengut gefärbt.

Zum anderen ein Appell an den Vorstand von Autismus Deutschland:

Beziehen Sie Stellung zum Thema ABA. Klar und deutlich. Stellen Sie sich hinter den Regionalverband der versucht etwas zu bewegen. Und lassen Sie nicht zu, dass eben diese Regionalverbände oder deren Vorstände als fundamentalistisch kritisiert werden! Und akzeptieren Sie vor allem nicht, dass andere Personenkreise interne Einschätzungen zu Werbezwecken nutzen und an kommerzielle Anbieter auch so weitergeben. Es darf nicht der kommerzielle Gewinn im Vordergrund stehen. Wichtig ist die Sache Autismus. Und dazu gehören wir Autisten nun mal untrennbar dazu.

EDIT: Ein Videobeispiel zu ABA

Vielen Dank an die Userin Anjali die bei Rehakids auf dieses Video hingewiesen hat.

Es geht um folgendes Video das vom oben genannten ABA Anbieter ins Netz gestellt wurde:

https://www.youtube.com/watch?v=P615UO1Sl30

Ich möchte nachfolgend einmal beschreiben was ich persönlich als Autist bei diesem Video sehe:

1) Das Kind darf nur mit dem Spielzeug spielen wenn es mit dem Vater spielt. Dem Wunsch alleine zu spielen wird mit Spielzeugentzug entgegnet.

2) Spielen mit dem Vater bedeutet in diesem Fall: Vom Vater körperlich umringt zu sein. Das Kind soll zwischen den Beinen des Vaters spielen und wird mit dem Spielzeug in den Händen des Vaters umfasst. Als Autist würde ich das als einengend empfinden und mich schon deshalb der Situation entziehen.

3) Das Kind soll mit Körperkontakt belohnt bzw. bestärkt werden wenn es zum Spielen nahe zum Vater kommt. Der Vater belohnt den „Lernerfolg“ des Kindes mit Handreiben der Brust, und Anfassen/Wischen im Gesicht. Auch hier wird wieder die Problematik des zu engen Körperkontaktes den viele Autisten haben nicht beachtet.

4) Das Kind kommuniziert deutlich, dass es alleine, aber mit dem Spielzeug spielen möchte. Das wird nicht akzeptiert. Das Spielen mit dem Spielzeug ist nur erlaubt wenn es zwischen den Beinen vom Vater sitzt.

5) Ich stelle mir eine Frage:  Nichtautistische Kinder dürfen alleine mit Spielzeug spielen ohne direkten Kontakt zu einem anderen Menschen zu haben. Warum müssen Autisten dann so etwas mitmachen? Ich verstehe es wirklich nicht.