oder
Autismus ist nicht gleich Autismus
Ende Oktober 2010 fing ich an Twitter zu nutzen. Eigentlich ein Wunder, war Twitter bisher für mich doch eher ein Spielzeug um unsinniges Hintergrundrauschen zu erzeugen! Anfangs tastete ich mich langsam an das Medium heran. Und weil man sich eben doch interessiert was die Welt so über Autismus denkt fing ich schnell an Tweets über Autismus zu beobachten und mitzuschreiben. Und wie es so ist: Irgendwann schaut man über den deutschsprachigen Tellerrand hinaus und widmet seine Aufmerksamkeit auch dem Autism. Was soll ich sagen? Mich hat es geschockt! Ich war anfangs sehr perplex wie sehr sich doch die englischen Nachrichten von den deutschsprachigen unterscheiden. Mit der Zeit wurde mir aber klar: In Amerika tickt man anders wenn es um das Thema Autismus geht. Im folgenden Beitrag möchte ich das ein wenig beleuchten und aufzeigen wie unterschiedlich doch die Herangehensweise und der Umgang mit Autismus sein kann.
Autismus:
Die deutschsprachige Twitterwelt zu Autismus ist eigentlich recht schnell beschrieben. Man findet hauptsächlich Hinweise auf Medienberichte zum Thema. Sei es die Wiederholung eines Filmes oder einer Doku über Autismus, ein neuer Zeitungsartikel der gerade in verschiedenen Zeitungen über Autismus berichtet oder die Neuigkeit das einer der berühmteren Autisten wieder etwas gemacht hat: Man erfährt es hier. Und man kommentiert es fleißig! Dabei findet durchaus nicht nur Zustimmung, kritische Stimmen von Autisten werden hier ebenfalls laut. Besonders gerne wird Twitter nur als Medium für die Bekanntgabe genutzt. Die wirklich interessanten Diskussionen finden dann in den weit verstreuten Blogs, Foren und Webseiten statt die sich eingehender mit Autismus befassen oder sogar von Autisten betrieben werden. Gerade Neuigkeiten aus dem Forschungsbereich machen in Twitter schnell die Runde und werden dann genauestens auf den jeweiligen Plattformen diskutiert.
Neben diesen Themenhinweisen findet man bei Twitter natürlich auch viel Gezwitscher bei dem das eine oder andere Mal das Wort Autismus fällt und bei dem man sich dann gerne mal einmischt. Die Community ist recht klein, so findet man nicht jede Info in unzähligen Ausführungen verteilt und das Nachrichtenvolumen bleibt in einem angenehmen Rahmen. Zum Glück haben die deutschsprachigen Scharlatane den Autismus und Twitter noch nicht wirklich für sich entdeckt. Unseriöse Angebote findet man zum Glück nur sehr selten! Gleiches gilt für die Verwendung von Autismus im negativen Zusammenhang oder als Beschimpfung. Sollte jemand dies dann doch mal wagen kann man garantieren, dass mehrere Autisten das versuchen zu bereinigen! Wie angenehm der deutschsprachige Twitterraum diesbezüglich ist, kann man feststellen wenn man nach „Autist“ sucht und dort überwiegend und sehr viele Kommentare aus den BeNeLux Staaten findet die Autist als Beschimpfung nutzen. Sehr traurig das unsere Nachbarn Autismus derart „lustig“ finden.
Autism:
Schaut man jedoch in den englischsprachigen Raum findet man eine ganz andere Mischung an Nachrichten vor. Das fängt mit unzähligen Spendenaufrufen an. Man bekommt das Gefühl das in den USA jeder für Autismus sammelt. Aber um was zu erreichen? Gesammelt wird für die sog. Autism Awareness. Eine Bewegung die, einfach ausgedrückt, nichts anderes erreichen möchte als Autismus bekannt zu machen. Es geht hier, wie ich anfänglich noch dachte, nicht um Aufklärung oder Information, es geht nur und ausschließlich darum das die Menschen wissen dass es Autismus gibt. Da stellt sich zumindest mir die Frage: Braucht man dafür unzählige Spendenaufrufe und Millionen von US Dollar? Mittlerweile gibt es aber Ansätze das man von der reinen Awareness hin zur Aufklärung was Autismus ist umschwenkt. Ich denke das ist wesentlich sinnvoller und hätte von Anfang an mitgemacht werden müssen. Es reicht nicht den Menschen zu sagen: „Es gibt Autismus!“, man muss ihnen auch erklären was Autismus ist und für Menschen mit Autismus bedeutet. Denn nur so kann man verhindern das mit dem Begriff Autismus irgendwelche Stereotypen verhaftet werden die später nur mühsam wieder ausgeräumt werden können!
Im Zusammenhang mit Autismus fallen viele weitere Bezeichnungen auf. So ist generell in den USA von einer „Epidemic“ die Rede. Die steigenden Diagnosezahlen werden als bedrohlich empfunden, Autismus wird zu einer Art Notstand im Gesundheitssystem erklärt. Und das wo Autismus in vielen Krankenversicherungen kein Leistungsfall darstellt und die Angehörigen oder Betroffenen die Kosten für jegliche Behandlung selbst bezahlen müssen. Erst nach und nach wird Autismus in den Leistungskatalog der amerikanischen Krankenversicherungen aufgenommen. Die logische Folge daraus ist das man viele Nachrichten findet in denen von „fighting autism“ die Rede ist. Es mag am Sprachgebrauch im englischen liegen, aber viele deutsche Autisten fühlen sich betroffen und angegriffen wenn sie lesen das Autismus bekämpft werden soll. Das mag für viele Nichtautisten vielleicht nicht nachvollziehbar sein, aber wenn man als Autist liest das Autismus bekämpft werden soll fühlt man sich selbst angegriffen und bekämpft. Autismus ist ein fest mit einem verbundener Teil und wer diesen Teil bekämpft, bekämpft auch die Personen dahinter. Hier fehlt vielleicht wirklich noch massiv das Bewusstsein das Autismus nicht generell und absolut etwas Schlechtes ist.
Noch einen Schritt weiter geht z.B. Autism Speaks. Eine große Organisation in den USA die sich, vordergründig, für Autism Awareness einsetzt. Schaut man jedoch hinter die Kulissen findet man eine Organisation vor, die ausschließlich von Nichtautisten gelenkt wird. Wie diese für Autismus sprechen wollen und können bleibt vielen Autisten ein Rätsel. Auf viel Unverständnis unter Autisten treffen diverse Werbekampangen dieser Organisation. Da fallen schon mal häufiger Aussagen wie: Autismus tötet Deine Familie, Autismus lässt Deine Beziehung scheitern, Autismus zerstört Dein Leben. Autismus, und damit eben auch Autisten, werden verteufelt und als von Grund auf Böse dargestellt. Wenn man sich nun anschaut das das eigentliche Ziel dieser Organisation Autism Awareness ist, ist es kein Wunder wenn so viel schief läuft. Autism Speaks geht aber noch weiter: Sie möchten nicht nur Autismus bekämpfen, sie wollen Autismus heilen! Es wird viel Geld in Forschungen gesteckt die eine Pränatale Diagnostik als Ziel haben. Alles in Allem: Es wäre für sie ein wünschenswertes Ziel das man Autismus rechtzeitig erkennen und damit auch verhindern kann. Grund: man erspart den Menschen und den Angehörigen viel Leiden! Ich für meinen Fall bin froh zu leben und ich verstehe nicht warum andere Autisten nicht auch ein Recht auf Geburt und Leben haben sollten!
Wer sich, mangels Geldmitteln, nicht auf eine Heilung von Autismus konzentrieren kann beschäftigt sich mit anderen, oftmals dubiosen, Methoden. So werden immer wieder Diäten als Wundermittel zur Heilung von Autismus propagiert. Ganz weit oben ist dabei die Gluten freie Ernährung die eigentlich für Menschen mit einer Glutenunverträglichkeit gedacht ist. Wenn man mitbekommt welche Schwierigkeiten diese Menschen beim Einkaufen haben können und wie sie u.U. auch eingeschränkt in der Wahl ihrer Lebensmittel sind stellt sich mir die Frage: Warum sollte man Autisten grundlos damit belasten? Ich denke hier wird, geblendet von kleinen Erfolgen, eines übersehen: Zum einen kann es Menschen mit Autismus und einer Glutenunverträglichkeit geben. Diesen hilft diese Diät natürlich! Zum anderen: Wenn es unter Umständen einigen Autisten hilft bedeutet das aber nicht das es jedem Autisten hilft! Ich weiß nicht an welchem Wahn es liegt: Genau als Allheilmittel für Autismus werden solche Diäten aber verkauft. Und im Land der Diäten kann man auch davon ausgehen, dass viele verzweifelte Eltern alles ausprobieren um den Autismus der Kinder zu heilen. Noch erheblich heftiger schlägt nachfolgender Trend in die Kerbe derjenigen die sich eine Heilung herbeisehnen.
Etwas was man auch erheblich mehr im englischsprachigen Raum zu lesen bekommt: Es gibt, bisher natürlich recht unbekannte, Therapiemethoden die Autisten geheilt haben. Gerade aktuell, und dieses Mal auch ins deutsche Twitter geschwappt, ist es das „Son-Rise-Programm®“ aus dem Osten der USA. Die „Erfinder“ sind die Eltern eines Kindes das mit einem Jahr die Diagnose „Autismus“ bekam und einen festgestellten IQ unter 30 hatte. Die Eltern wollten sich nicht mit dem Schicksal der Diagnose abfinden und haben sich fortan sehr intensiv mit ihrem Sohn beschäftigt. Kern der Therapie ist das Nachahmen der Bewegungen des Autisten und der sog. sokratische Dialog. 3 Jahre später waren alle Anzeichen für Autismus verschwunden und der Sohn galt als geheilt. Der Sohn durfte an einer Eliteuniversität studieren und leitet nun das von den Eltern gegründete Institut das diese Therapie lehrt und verbreitet. Sie ist übrigens eine eingetragene Marke! Soweit die Geschichte dazu.
Vorab sollte ich sagen: Es mag Wunder für diejenigen geben die daran glauben. Wunder sind jedoch, schaut man sich die Definition an, etwas extrem seltenes. Für mich ist es also vermessen zu behaupten: Dieses Wunder können alle die die Therapie anwenden an einem autistischen Kind vollbringen! Ich möchte aber nicht nur, zugegeben ein wenig ironisch gefärbt, an diese Therapie herangehen.
Geht man nüchtern und neutral an dieses Thema heran fallen mehrere Punkte auf: Zum einen ist mir kein Intelligenztest bekannt, der Gesamtwerte bis 30 auflistet. Selbst wenn 30 eine unterste Schwelle im Testspektrum wäre so gilt in diesem Falle das Gleiche wie für besonders hohe Werte: Sie sind nicht wirklich zuverlässig in ihrer Aussage. Intelligenztests sind nicht für die genaue Bestimmung von Extremwerten, egal ob hohe oder niedrige, ausgelegt. Geht man davon aus das es ein genormter Test ist, so würde ein IQ Wert von 55, das entspricht einem IQ von 145 im oberen Bereich, nur noch 0,1% der Bevölkerung betreffen. Man kann sich also vorstellen wie man zu der Aussage: „IQ unter 30“ stehen kann und sollte. Folgt man nun der Ansicht, dass der IQ-Wert und damit die sog. Testintelligenz als künstliches Konstrukt, sich zwar im Laufe des Lebens verändern kann aber eine Tendenz immer bestehen bleibt muss man sich fragen wie ein Mensch der angeblich einen IQ von unter 30 hatte später an einer Eliteuniversität erfolgreich studieren konnte. Zu Erinnerung: Man geht davon aus, dass ein IQ Wert von 30 genauso häufig in der Bevölkerung vorkommt wie einer von 170! Wie wahrscheinlich ist das? Und wie wahrscheinlich ist es das jemand der so selten und extrem „minderbegabt“ ist an einer Eliteuniversität studieren kann? Die Anforderungen dort zugelassen zu werden sind normalerweise extrem hoch!
Natürlich kommt es vor, dass einem Autisten ein wesentlich zu niedriger IQ bescheinigt wird. Diese Tests sind weder für Autisten ausgelegt noch berücksichtigen sie in ihrem Aufbau autistische Besonderheiten.
Ein erfahrener Facharzt sollte dies jedoch eigentlich wissen. Wenn dieser nun bei einem Autisten einen IQ von unter 30 feststellt und man meine obigen Bedenken mit einbezieht könnte man schon darüber nachdenken, ob diese Diagnose wirklich korrekt gestellt wurde. Welche Konsequenzen dies bezüglich der propagierten Heilung hat obliegt dann jedem selbst. Mit einer Wunderheilung für Autismus und andere Behinderungen kann man im Gegenzug allerdings viel Geld machen. Und gerade in den USA glaubt man ja gerne an diverse göttliche Wunder!
Ein letztes großes Thema das man fast ausschließlich im englischsprachigen Raum findet aber viel Unmut unter Autisten erzeugt ist die krampfhafte Suche nach den Ursachen für Autismus. Ich rede hier nicht von seriöser Forschung sondern von teilweise an den Haaren herbeigezogenen Studien. So bekommt man fast täglich und das dann in einer Art Nachrichtenbombardement neue Ursachen für Autismus präsentiert. Da ist es einmal die Wohnortnähe zu Autobahnen, ein anderes Mal der zu geringe Zeitabstand zwischen zwei Geburten einer Frau und, nicht auszurotten und besonders hartnäckig, die Impftheorie. Dazu kann nun jeder stehen wie er möchte, aber ich habe noch bei keiner Ursache für Autismus einen derartig verhärteten Grabenkampf gesehen. Diese in Gänze zu beschreiben ist hier eigentlich unmöglich, aber dass mit verschiedenen Maßen gemessen wird sieht man vielleicht an folgendem Beispiel:
Die Befürworter dieser Theorie stützten sich im Großen und Ganzen auf wenige Studien die einen angeblichen Zusammenhang zwischen der MMR Impfung und Autismus festgestellt haben. Im Umkehrschluss fordern sie aber man möge als Gegner der Theorie doch bitte zweifelsfrei und 100%tig beweisen das Impfungen unschädlich sind. Das dies unmöglich ist sollte jedem Menschen klar sein.
Man verkennt bei dieser Theorie zwei in meinen Augen wesentliche Punkte:
Zum einen vergisst man, dass die Anzeichen für Autismus in einem Alter von 2 bis 3 Jahren sichtbar werden. Eben genau das Alter in dem auch geimpft wird. Dass die Grundlage von Autismus überwiegend genetisch bedingt und damit seit Geburt vorhanden ist, und so sieht es nach dem Stand der derzeitigen Forschungen auf dem Gebiet aus, wird dabei verdrängt. Tritt etwas zeitnah auf besteht automatisch ein Zusammenhang.
Zum anderen wird Autismus hier nicht differenziert gesehen. Autismus ist, wie oben schon beschrieben, angeboren. Autistische Züge hingegen können erworben werden. Das man nicht von autistischen Zügen als Impfschaden sondern von Autismus redet hat wohl schlicht und einfach mit der Wirkung des Wortes zu tun. Autistische Züge klingen einfach nicht bedrohlich genug. Das man das Leben vieler Autisten aber damit schwerer macht und auf ihrem Rücken einen Kampf austrägt für den sie nichts können: Das vergessen leider alle!
Ich habe mich natürlich gefragt warum das so ist. Die Antwort war deutlich und wie auch von mir schon vermutet: Es geht um Geld. Angehörige suchen für andere Argumente verschlossen und krampfhaft nach einem Schuldigen für den Autismus ihres Kindes. Eben weil das Gesundheitssystem in den USA so teuer ist. Man sucht jemanden den man verklagen kann. In diesem Fall die Pharmaindustrie. Das man unter Umständen als Genträger selbst „schuld“ am Autismus ist möchte keiner hören. Als kleiner Gedankengang zum Schluss: Die Studie die in den 90er Jahren zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus feststellte wurde von Anwälten bezahlt die, das kommt nun nicht überraschend, mehrere Pharmaunternehmen verklagen wollten.
Honi soit qui mal y pense!
Zum Schluss bleibt mir nur zu sagen: Es war noch nie so wichtig dafür zu kämpfen das man Autismus und damit auch die Autisten versteht! Nur so kann es zu einer wirklichen Integration von Autisten in das alltägliche Leben kommen! Seien Sie bitte stets kritisch und prüfen Sie alles mit einem gesunden Menschenverstand wenn es um Informationen zum Autismus geht. Es ist nicht alles Gold was glänzt!
vielen Dank für diesen hoch interessanten und sehr aufschlussreichen Blick auf das Thema Autismus für den deutsch- und englischsprachigen Raum! Mir stellt sich spontan die Frage, wie es eigentlich mit der Aufklärung über Autismus (bzw. der Wahrnehmung von Autismus) in den anderen bevölkerungsreichen Ländern aussieht, wie z.B. in Russland oder im asiatischen Raum in Indien oder China?
Wie es in anderen Ländern aussieht kann ich schwer sagen weil mir die sprachkenntnisse fehlen. Wäre aber sicher eine interessante Frage. Soweit ich weiß sind in China Behinderungen, besonders die „geistigen“, mit einem erheblichen Makel versehen.
Über „Autism Speaks“ möchte ich mich derzeit kein Urteil erlauben, weil ich mich noch nicht eingehend genug mit deren Zielen befasst habe. Wenn es bestimmten Vereinigungen aber tatsächlich darum gehen sollte, Autismus regelrecht „auszurotten“ und als Charaktereigenschaft gezielt verächtlich zu machen, dann sollte man ernsthaft prüfen, ob derartige Bestrebungen nicht zumindest in Deutschland als Verstoß gegen das Grundgesetz („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) zu werten wären.
Nur mal als kleiner Gedankenanstoß, denn es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, dann macht sich derartiges Gedankengut auch in Europa breit.
Das Gedankengut ist, wenn auch noch versteckt, leider schon da. Beispiel:
European Autism Interventions – A Multicentre Study for Developing New Medications (EU-AIMS).
Ich zitiere mal:
Muss man da noch mehr sagen? 🙁
Ein sehr interessanter Artkel. Ich frage mich gerade nur, was das für ein IQ-Test gewesen sein soll bei einem Einjährigen. Ich dachte immer, das geht erst ab dem Vorschulalter und das erscheint mir auch logisch.
Sowas fällt leider nur auf wenn man kritisch an solche Wunder herangeht 🙁 Und wer möchte eine solche „tolle“ Entwicklung schon anzweifeln? Erstmal kaum einer. Es sind immer noch die sprichwörtlichen Strohhalme an die sich Angehörige klammern.
Ein sehr interessanter Artikel, der uns über den Tellerrand blicken läßt. Obwohl uns die USA ja in vielem was die Autismustherapie betrifft voraus ist, finde ich geschilderte Grundhaltung sehr bedenklich und hoffe, daß diese NICHT zu uns herüberschwappt.
Die Forschung tut es leider schon. Siehe mein Kommentar zu EU-AIMS.
Dieser „Lärm“ ist keineswegs auf den englischen Sprachraum begrenzt. Es ist ja nichts gegen Forschung einzuwenden, jedoch passiert es allzu schnell, dass irgend welche Splitter aus Forschungsarbeiten an die Öffentlichkeit gelangen und da verallgemeinert, verkürzt und stammtisch-wissenschaftlich verfälscht wird.
Da haben wir den Salat!
Kürzlich geisterte so etwas in einem Gratisblättchen herum, das den Eindruck erweckte, als ob Störungen im Darm Autismus verursachen würden. Es fiel mir leicht mir vorzustellen, dass manche Leute den Umkehrschluss machten, in dem sie annahmen, dass eine Heilung des Darms auch den Autismus kurieren könne. Doch wie sollte eine andersartige Verdrahtung, die sich über die Jahre entwickelt hat, den Normalzustand annehmen, selbst wenn die Ursache tatsächlich so wäre?
Und ach … in Frankreich findet man offenbar immer noch Fachleute, die meinen, die Träume der Mutter während der Schwangerschaft hätten Autismus verursacht.
Sowas steht den Maya-Welt-Untergangsprohezeiungen in nichts nach; ich kann es genausowenig ernst nehmen.
Ich befasse mich immer wieder mit dem, was in Amerika zum Thema Autismus veröffentlicht wird und kann die hier geschilderten Eindrücke bestätigen. Dabei scheinen mir die wesentlichen Unterschiede zum deutschsprachigen Bereich zu sein:
(a) Es wird in den USA sehr schnell auf die Dichotomie „gut vs. böse“ abgehoben. Dass schon allein damit der Boden wissenschaftlicher Realität verlassen wird, fällt den Diskutierenden oft nicht auf.
(b) Die wissenschaftliche Vorbildung der Diskutierenden scheint oft eher dürftig zu sein. Wenn etwas, was in Wirklichkeit eine Verschwörungstheorie ist, von irgendwem mit akademischem Grad als wissenschaftliche Theorie oder Forschungsergebnis präsentiert wird, wird das sehr viel schneller als im deutschsprachigen Bereich akzeptiert und verbreitet.
(c) Der liebe Gott hat in den USA seine Hände deutlich öfter im Spiel als im deutschsprachigen Bereich.
(d) Angst, Hysterie, Panik etc. scheinen die Diskussionen in den USA deutlich öfter zu beherrschen als im deutschsprachigen Bereich. Mir ist häufig völlig unklar, was dieser (aus meiner Sicht) schrille Ton für Ursachen hat.
Sehr guter Bericht. Deine Aussagen spiegeln ziemlich 1:1 meine eigene Wahrnehmung wider. Es scheint so, als wäre die Profilierungssucht der Wissenschaftler in den USA noch deutlich ausgeprägter als hier. Man gewinnt den Eindruck, hier werden halb durchdachte Studien veröffentlicht, nur zum Zwecke der Beschaffung von Forschungsgeldern. Damit erweist man der seriösen Forschung, meines Erachtens nach, einen Bärendienst.
Davon abgesehen, sind auch meine Frau und ich der Meinung, Autisten sollten sehr viel stärker in die Beratung und die Therapie eingebunden werden. Menschen die viele Jahre mit Autisten zu tun haben, können sich sicherlich ein Stück weit in die Gedankenwelt eines Autisten hineindenken, aber niemand kann einen Autisten so gut verstehen, wie eben ein Autist. Daher sehe ich die meisten der Forschungsarbeiten zu dem Thema eher wie ein Stochern im Nebel.
Danke für den Artikel.
Das sehe ich ganz genau so. Ich habe selbst schon einige Stellen angeschrieben und einen Austausch über Autismus angeboten. Reaktionen = Fast keine. Anscheinend denken noch viele „Experten“ das sie, eben weil Sie viel mit Autismus zu tun haben, auch alles über Autismus wissen. Oder sie nehmen einen Autisten der sowas anbietet nicht ernst. Egal wie man es sieht: Traurig 🙁
„Autisten sollten sehr viel stärker in die Beratung und die Therapie eingebunden werden. Menschen die viele Jahre mit Autisten zu tun haben, können sich sicherlich ein Stück weit in die Gedankenwelt eines Autisten hineindenken, aber niemand kann einen Autisten so gut verstehen, wie eben ein Autist“
Als jemand der seit ein paar Jahren mit Autisten zu tun hat, kann ich diese Aussage voll und ganz bestätigen! Um so mehr die Kinder in den Yogaübungen ihren Körpern erfahren haben, sind sie in der Lage gewesen selbstbestimmt zu handeln und zu agieren (wenn sie den Raum dafür bekamen). Das erste Zeichen eines Jungen war, dass er plötzlich mitten in der Übung aufhörte und begannen seine Sportsachen aus- und seine Sachen wieder anzuziehen. Fortan sein Zeichen für „genug für heute, mehr geht nicht“. Davor habe ich Schluss gemacht, wenn ich bemerkt habe, dass es ihm für heute reicht. Damit änderte sich unser Verhältnis schlagartig: von passiv in aktiv. Er reagierte auf meine Impulse und begann mich zu lenken und zu „führen“, indem er mir begann seine Bedürfnisse zu zeigen, auf die ich reagierte. Nur kamen wir auf diese Weise recht schnell an meine Grenzen. Mir wurde klar, ich kann ihm dabei helfen in seinem Körper anzukommen, aber wenn es um seine Wahrnehmung geht, ihn darin zu stärken und zu fördern, braucht er jemanden, der diese Wahrnehmungsräume mit ihm teil. Er griff sich einmal mein IPhone. Die Geschwindigkeit mit der seine Fingerkuppen das Gehäuse einmal überstreiften und nach den funktionalen Informationen abzuscannen schien, war faszinierend anzusehen. Es war der erste von vielen weiteren Momenten, in denen mir immer wieder eins bewusst wurde: ab hier brauchen sie jemanden, der ihre Wahrnehmung teilt, die ihr Wesen bedtimmt und ihre Interessen.
Ein sehr interessanter Bericht und du hast einige wichtige Punkte aufgegriffen.
Einen Punkt aber vermisse ich etwas. Im englischsprachigen Raum gibt es etwas, das in meinen Augen sehr viel besser ist, als im deutschsprachigen Raum, nämlich gute, sinnvolle Ratgeber für den Alltag.
Auf deutsch gibt es da nicht so viel. Aspergirls von Rudy Simone ist letztes Jahr auf deutsch übersetzt worden, oder einige Bücher von Tony Attwood. Aber gerade was die Beziehungs- und Berufsratgeber angeht, fehlt noch sehr viel. Ich lese gerade „Business for Aspies“ von Ashley Stanford, kennst du es vielleicht? Ich gebe die Tipps meinen Freunden auf deutsch weiter, aber ich bedauere, dass sie nicht das komplette Buch lesen können.
Hallo,
danke für den Hinweis. Ich habe ja nur Twitter analysiert. Da gibt es dann leider wenig Verweise auf Literatur.
Aber ja: Positiv ist auf jeden Fall das Autismus im englischsprachigen Raum gerade in der Literatur sehr stark vertreten ist. Vielleicht schreibe ich ja auch mal über Bücher/Filme zum Thema.
Danke für die Anmerkung!
Aleksander
Hallo,
würde zu gerne sehen und das Verhalten von Euch beobachten, wenn Ihr ein autistisches Kind hättet. Es gibt die so genanten Asperger, die sehr intelligent sind und die vielleicht Autisten sein möchten. Denkt aber an die Autisten die jeden Tag weinen, sich schlagen, verletzen und sich nicht ausdrücken können…Diese brauchen nicht nur Verständnis, sondern Hilfe. Die Medizin ist sehr eingeschränkt und alles muss 100% bestätigt werden, bevor etwas auf den Markt kommt. Zum teil gibt es Autisten die wirklich geheilt werden und welche halt nicht. Wenn jetzt die Eltern so ein Kind einfach hinnehmen ohne die Bestrebung etwas zu unternehmen, ist es genauso als würdet Ihr euer Kind aufgeben. Das die Gene daran schuld sind gilt bei den Kindern die von Geburt an autistisch sind. Es gibt viele Kinder die erst ab 2 Jahren autistisch wurden und davor ein ganz normales Verhalten aufgewiesen haben. Urteilt niemals über die Eltern mit Verachtung die alles versuchen. Leute die keine autistische Kinder haben sollten auch niemals Urteilen, weil sie es einfach nicht verstehen. Natürlich gibt es viele Formen von Autismus und manche kan man vielleicht so hinnehmen, weil die Kinder reden und schreiben können.
Aber im allgemeinen muss Autismus bekämpft werden und das ist nicht etwas was einfach so von der Menschheit akzeptiert werden kann, wenn Eltern und selbst die Kinder sehr darunter leiden. Akzeptiert die Menschheit den Autismus „Autist, na und!“, dann wird die Forschung niemals den betroffenen Eltern/Kindern helfen können, weil der jeweilige Druck einfach fehlen wird um die Forschung anzutreiben.
Alexander
Traurig wenn ich sowas lesen muss:
Ich trete mit meinem Blog eigentlich dafür ein, dass Autismus verstanden wird. Ich möchte vermitteln. Aber wenn ich dann sehe das man Asperger Autisten anscheinend nicht ernst nimmt fehlen mir die Worte.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass nur die schwersten und den Stereotypen am besten enstprechenden Autisten als Autisten anerkannt werden damit man ohne schlechtes Gewissen schreiben kann:
Aleksander
Mir ist gerade noch folgende Stelle aufgefallen:
Auch bei den „ab 2 Jährigen“ sind es die Gene. Autismus macht sich normalerweise erst in diesem Alter bemerkbar. Und es gibt genug erbliche Krankheiten und Behinderungen die weit nach der Geburt zum Tragen kommen.
Davon auszugehen das die ersten 2 Jahre „normal“ waren und Autismus deshalb nicht genetisch sein kann ist schlichtweg Blödsinn.
Schade das von Angehörigen solche Aussagen und Behauptungen kommen.
Alexander,
Sie sprechen mir aus der Seele. Ich bin ganz Ihrer Meinung.
Ich bin Mama eines fast 12 jährigem Mädchens, welches seit Ihrem 6. Lebensmonat an einer sehr ausgeprägten Form von frühkindlichem Autismus LEIDET.
Ich finde es schade, dass in Ihrem Beitrag nur von Autismus bzw. Autist gesprochen wird und dabei nicht zwischen den unterschiedlichen Formen unterschieden wird. Ich würde Ihrem Beitrag voll und ganz zustimmen, wenn er sich auf den Aspergerautismus beschränkt.
Unser fast 12 Jahre alte Tochter hat frühkindlichen (Kanner) Autismus, ist stuhl- und harninkontinent, geplagt von ständigen Schreiatacken, kann nicht sprechen (was sie manchmal sehr wütend macht), obwohl sie fast alles was man ihr sagt versteht, hat den Zwang sich von Zeit zu Zeit in unangemessenen Situationen vollständig zu entkleiden und mit ihren Exxkrementen zu spielen, sie schlägt und verletzt sich selbst aufs Übelste, isst ungenießbare Dinge, hat sehr starke Stimmungsschwankungen, ist geistig auf dem Stand eines ca. 4 – jährigem, sie Brauch fast ständig Schallschutzkopfhörer, gepolsterte Handschuhe und eine weiche Halskrause zum Selbstschutz und ist fast in allem auf unsere Hilfe angewiesen (besonders in der Körperpflege). Sie kann weder lesen noch schreiben, alle Versuche Ihr die gestützte Kommunikation nahe zu bringen sind bisher gescheitert.
Das alles ist für uns als Familie sehr schwer zu schaffen, besonders je älter sie wird. Aber am allerschlimmsten ist, dass Lea auf verschiedenste Art und Weise versucht deutlich zu machen, dass sie unter Ihrer Behinderung sehr leidet und da ausbrechen möchte. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich Leas Mama bin, aber manchmal fühle ich mich ihr so nah, dass ich Spuren kann, dass sie weiß, dass sie anders ist und sich uns gerne mitteilen möchte. Sicherlich sind ihr nicht alle Symptome des frühkindlichen Autismus unangenehm, aber wir fühlen, dass sie sich uns verbal mitteilen möchte, dafür aber einfach keinen Weg findet und dass sie unter ihren Autoagressionen-, ihren Schreiatacken- und ihrer Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen sehr leidet und dies sehr gerne loswerden will.
Eine Heilung halten wir auch für ausgeschlossen, aber wir sehnen uns nach einer Möglichkeit, manche Symptome zu lindern und die Sprachblockade zu durchbrechen.
In meinem Blogpost ging es aber nun mal nicht um die Unterschiede/Trennung zwischen Kanner- und Aspergerautismus. Es ging mir um das unterschiedliche Verhalten bzw. Unterschiede im Umgang mit dem Thema Autismus in Deutschland und den USA.
Ich finde es schade wenn immer wieder -wertend- zwischen Asperger- und Kannerautisten unterschieden wird. Der Kern (die andere Wahrnehmung und die daraus resultierenden Probleme) ist der gleiche, die Ausprägung ist anders. Und anstelle das man die Chance nutzt von kommunikativen Autisten (egal welcher Form) zu lernen damit man die nichtkommunikativen vielleicht besser versteht….wird getrennt als würden die einen von Äpfeln und die anderen von Kartoffeln reden. Schade.
Woher wollen Sie wissen, dass ein Asperger-Autist nicht genauso wahrnimmt und empfindet wie ein Kanner-Autist? Viele hochfunktionale Autisten leiden genauso unter den Umweltreizen wie schwer betroffene Autisten, nur können sie es irgendwie besser kompensieren oder haben gelernt, es irgendwie auszuhalten, um in dieser Welt zu funktionieren. Vergessen Sie bitte nicht, dass gerade Asperger-Autisten so normal wirken, dass man von ihnen auch Normalität erwartet, die dann unter Aufbietung von viel Kraft und Energie versucht wird, zu leisten. Aber die Betroffenen leiden dennoch, erleben immer wieder Frustration, weil Normalität eben nicht wirklich erlangt wird. Die Kompensationsleistung, die von ihnen täglich erbracht werden muss, kostet enorm viel Kraft und führt zu großen Erschöpfungszuständen.
Ich würde in manchen Situationen auch gerne laut aufschreien und um mich oder mich selbst schlagen. Im Sommer leide ich bei dem hellen Sonnenlicht derart, dass ich handlungsunfähig werde und körperliche Qualen empfinde und mich krank fühle. Es gibt Situationen, in denen auch ich keine Sprache habe. Sicherlich ist Ihre Tochter da sehr viel schlimmer dran, kann sie sich gar nicht verbal ausdrücken, aber leiden tun wir alle gleichermaßen, glauben Sie mir.
Insofern sehe ich zwischen Kanner- und Asperger-Autisten mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede und daher ist es meines Erachtens nicht sinnvoll, immer wieder den Unterschied zwischen den Autismusformen hervorzukehren, oftmals mit dem Resultat, dass sich beide Gruppen samt Angehörige gegensetig bekämpfen, anstatt gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um mehr Verständnis und Toleranz für Menschen mit Autismus zu schaffen. Die Autismus-Spektrum-Störung, die alle Autisten umfasst, erklärt es gut und Menschen wie Ihre Tochter können dabei sogar profitieren, weil jene, die über verbale Sprache verfügen, für sie mitsprechen können.
Ein sehr gut geschriebener Artikel, der genau meine Gedanken zum Thema ausdrückt.
Der ursprüngliche Blog-Artikel ist wirklich ganz klasse und es ist schon erschreckend, was im Ami-Land passiert. Leider ist es immer wieder darauf herunter zu brechen: Es geht um Geld. Geld verdienen in dem man Hoffnung erzeugt – das Wunder geschehen mögen.
Da das Thema Bücher angesprochen wurde: Neu ist das Buch von G. Theunissen „Der Umgang mit Autismus in den USA: Schulische Praxis, Empowerment und gesellschaftliche Inklusion. Das Beispiel Kalifornien „. Das ist aber eben nicht Twitter, sondern Wissenschaft und hier gibt es durchaus ein paar interessante Ansätze in dem Buch, die auch neu in Deutschland wären (aber ist auch wissenschaftlich geschrieben… keine leichte Kost).
Natürlich kann ich Eltern verstehen, die sich bei vielen Formen des Autismus ein Wunder erhoffen. Frühkindlicher Autismus in seiner ausgeprägten Form: das ist schwer und oft kaum auszuhalten. Da haben es Eltern mit Aspergern leichter – aber nicht leicht. Es ist anders. Ich kann verstehen, dass Eltern frühkindlicher Autisten sich „Asperger“ statt „frühkindlich“ wünschen würden – spätestens nachdem die vierte doppelverglaste Fensterscheibe mit dem Kopf durchstoßen wurde. Trotzdem sollte es hier darum gehen, an einem Strang zu ziehen und nicht gegeneinander zu polemisieren.
Wer sich mit dem frühkindlichen Autismus beschäftigen möchte: „ Kai lacht wieder“ – alt aber ganz toll geschrieben. Pflicht ist natürlich Katja Rohde „Ich Igelkind“ (kurz, knapp und dramatisch wie), Franz Uebelacker: „Ich lasse mich durch wilde Fantasien tragen.“ (Beide kommunizieren über gestützte Kommunikation (nicht unterstützte!). Neu seit gestern als eBook auch Gisa Anders mit „Eine Fantasie guckt aus dem Fenster: Vom frühkindlichen Autismus zum selbst bestimmten Leben“.
Fazit: Aufpassen, dass nicht zu viel aus Ami-Land zu uns rüber schwappt. Das Twitter da sehr bedenklich ist, hat Aleksander geschrieben. Das gleiche gilt für die Podcasts – viele unglaublich unsinnige und dumme Beiträge – mit einer sehr großen Öffentlichkeit durch den englischen Sprachraum.