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Autismus ist nicht gleich Autismus

Ende Oktober 2010 fing ich an Twitter zu nutzen. Eigentlich ein Wunder, war Twitter bisher für mich doch eher ein Spielzeug um unsinniges Hintergrundrauschen zu erzeugen! Anfangs tastete ich mich langsam an das Medium heran. Und weil man sich eben doch interessiert was die Welt so über Autismus denkt fing ich schnell an Tweets über Autismus zu beobachten und mitzuschreiben. Und wie es so ist: Irgendwann schaut man über den deutschsprachigen Tellerrand hinaus und widmet seine Aufmerksamkeit auch dem Autism. Was soll ich sagen? Mich hat es geschockt! Ich war anfangs sehr perplex wie sehr sich doch die englischen Nachrichten von den deutschsprachigen unterscheiden. Mit der Zeit wurde mir aber klar: In Amerika tickt man anders wenn es um das Thema Autismus geht. Im folgenden Beitrag möchte ich das ein wenig beleuchten und aufzeigen wie unterschiedlich doch die Herangehensweise und der Umgang mit Autismus sein kann.

Autismus:

Die deutschsprachige Twitterwelt zu Autismus ist eigentlich recht schnell beschrieben. Man findet hauptsächlich Hinweise auf Medienberichte zum Thema. Sei es die Wiederholung eines Filmes oder einer Doku über Autismus, ein neuer Zeitungsartikel der gerade in verschiedenen Zeitungen über Autismus berichtet oder die Neuigkeit das einer der berühmteren Autisten wieder etwas gemacht hat: Man erfährt es hier. Und man kommentiert es fleißig! Dabei findet durchaus nicht nur Zustimmung, kritische Stimmen von Autisten werden hier ebenfalls laut. Besonders  gerne wird Twitter nur als Medium für die Bekanntgabe genutzt. Die wirklich interessanten Diskussionen finden dann in den weit verstreuten Blogs, Foren und Webseiten statt die sich eingehender mit Autismus befassen oder sogar von Autisten betrieben werden. Gerade Neuigkeiten aus dem Forschungsbereich machen in Twitter schnell die Runde und werden dann genauestens auf den jeweiligen Plattformen diskutiert.

Neben diesen Themenhinweisen findet man bei Twitter natürlich auch viel Gezwitscher bei dem das eine oder andere Mal das Wort Autismus fällt und bei dem man sich dann gerne mal einmischt. Die Community ist recht klein, so findet man nicht jede Info in unzähligen Ausführungen verteilt und das Nachrichtenvolumen bleibt in einem angenehmen Rahmen. Zum Glück haben die deutschsprachigen Scharlatane den Autismus und Twitter noch nicht wirklich für sich entdeckt. Unseriöse Angebote findet man zum Glück nur sehr selten! Gleiches gilt für die Verwendung von Autismus im negativen Zusammenhang oder als Beschimpfung. Sollte jemand dies dann doch mal wagen kann man garantieren, dass mehrere Autisten das versuchen zu bereinigen! Wie angenehm der deutschsprachige Twitterraum diesbezüglich ist, kann man feststellen wenn man nach „Autist“ sucht und dort überwiegend und sehr viele Kommentare aus den BeNeLux Staaten findet die Autist als Beschimpfung nutzen. Sehr traurig das unsere Nachbarn Autismus derart „lustig“ finden.

Autism:

Schaut man jedoch in den englischsprachigen Raum findet man eine ganz andere Mischung an Nachrichten vor. Das fängt mit unzähligen Spendenaufrufen an. Man bekommt das Gefühl das in den  USA jeder für Autismus sammelt. Aber um was zu erreichen? Gesammelt wird für die sog. Autism Awareness. Eine Bewegung die, einfach ausgedrückt, nichts anderes erreichen möchte als Autismus bekannt zu machen. Es geht hier, wie ich anfänglich noch dachte, nicht um Aufklärung oder Information, es geht nur und ausschließlich darum das die Menschen wissen dass es Autismus gibt. Da stellt sich zumindest mir die Frage: Braucht man dafür unzählige Spendenaufrufe und Millionen von US Dollar? Mittlerweile gibt es aber Ansätze das man von der reinen Awareness hin zur Aufklärung was Autismus ist umschwenkt. Ich denke das ist wesentlich sinnvoller und hätte von Anfang an mitgemacht werden müssen. Es reicht nicht den Menschen zu sagen: „Es gibt Autismus!“, man muss ihnen auch erklären was Autismus ist und für Menschen mit Autismus bedeutet. Denn nur so kann man verhindern das mit dem Begriff Autismus irgendwelche Stereotypen verhaftet werden die später nur mühsam wieder ausgeräumt werden können!

Im Zusammenhang mit Autismus fallen viele weitere Bezeichnungen auf. So ist generell in den USA von einer „Epidemic“ die Rede. Die steigenden Diagnosezahlen werden als bedrohlich empfunden, Autismus wird zu einer Art Notstand im Gesundheitssystem erklärt. Und das wo Autismus in vielen Krankenversicherungen kein Leistungsfall darstellt und die Angehörigen oder Betroffenen die Kosten für jegliche Behandlung selbst bezahlen müssen. Erst nach und nach wird Autismus in den Leistungskatalog der amerikanischen Krankenversicherungen aufgenommen. Die logische Folge daraus ist das man viele Nachrichten findet in denen von „fighting autism“ die Rede ist. Es mag am Sprachgebrauch im englischen liegen, aber viele deutsche Autisten fühlen sich betroffen und angegriffen wenn sie lesen das Autismus bekämpft werden soll. Das mag für viele Nichtautisten vielleicht nicht nachvollziehbar sein, aber wenn man als Autist liest das Autismus bekämpft werden soll fühlt man sich selbst angegriffen und bekämpft. Autismus ist ein  fest mit einem verbundener Teil und wer diesen Teil bekämpft, bekämpft auch die Personen dahinter. Hier fehlt vielleicht wirklich noch massiv das Bewusstsein das Autismus nicht generell und absolut etwas Schlechtes ist.

Noch einen Schritt weiter geht z.B. Autism Speaks. Eine große Organisation in den USA die sich, vordergründig, für Autism Awareness einsetzt. Schaut man jedoch hinter die Kulissen findet man eine Organisation vor, die ausschließlich von Nichtautisten gelenkt wird. Wie diese für Autismus sprechen wollen und können bleibt vielen Autisten ein Rätsel. Auf viel Unverständnis unter Autisten treffen diverse Werbekampangen dieser Organisation. Da fallen schon mal häufiger Aussagen wie: Autismus tötet Deine Familie, Autismus lässt Deine Beziehung scheitern, Autismus zerstört Dein Leben. Autismus, und damit eben auch Autisten, werden verteufelt und als von Grund auf Böse dargestellt. Wenn man sich nun anschaut das das eigentliche Ziel dieser Organisation Autism Awareness ist, ist es kein Wunder wenn so viel schief läuft. Autism Speaks geht aber noch weiter: Sie möchten nicht nur Autismus bekämpfen, sie wollen Autismus heilen! Es wird viel Geld in Forschungen gesteckt die eine Pränatale Diagnostik als Ziel haben. Alles in Allem: Es wäre für sie ein wünschenswertes Ziel das man Autismus rechtzeitig erkennen und damit auch verhindern kann. Grund: man erspart den Menschen und den Angehörigen viel Leiden! Ich für meinen Fall bin froh zu leben und ich verstehe nicht warum andere Autisten  nicht auch ein Recht auf Geburt und Leben haben sollten!

Wer sich, mangels Geldmitteln, nicht auf eine Heilung von Autismus konzentrieren kann beschäftigt sich mit anderen, oftmals dubiosen, Methoden. So werden immer wieder Diäten als Wundermittel zur Heilung von Autismus propagiert. Ganz weit oben ist dabei die Gluten freie Ernährung die eigentlich für Menschen mit einer Glutenunverträglichkeit gedacht ist. Wenn man mitbekommt welche Schwierigkeiten diese Menschen beim Einkaufen haben können und wie sie u.U. auch eingeschränkt in der Wahl ihrer Lebensmittel sind stellt sich mir die Frage: Warum sollte man Autisten grundlos damit belasten? Ich denke hier wird, geblendet von kleinen Erfolgen, eines übersehen: Zum einen kann es Menschen mit Autismus und einer Glutenunverträglichkeit geben. Diesen hilft diese Diät natürlich! Zum anderen: Wenn es unter Umständen einigen Autisten hilft bedeutet das aber nicht das es jedem Autisten hilft! Ich weiß nicht an welchem Wahn es liegt: Genau als Allheilmittel für Autismus werden solche Diäten aber verkauft. Und im Land der Diäten kann man auch davon ausgehen, dass viele verzweifelte Eltern alles ausprobieren um den Autismus der Kinder zu heilen. Noch erheblich heftiger schlägt nachfolgender Trend in die Kerbe derjenigen die sich eine Heilung herbeisehnen.

Etwas was man auch erheblich mehr im englischsprachigen Raum zu lesen bekommt: Es gibt, bisher natürlich recht unbekannte, Therapiemethoden die Autisten geheilt haben. Gerade aktuell, und dieses Mal auch ins deutsche Twitter geschwappt, ist es das „Son-Rise-Programm®“ aus dem Osten der USA. Die „Erfinder“ sind die Eltern eines Kindes das mit einem Jahr die Diagnose „Autismus“ bekam und einen festgestellten IQ unter 30 hatte. Die Eltern wollten sich nicht mit dem Schicksal der Diagnose abfinden und haben sich fortan sehr intensiv mit ihrem Sohn beschäftigt. Kern der Therapie ist das Nachahmen der Bewegungen des Autisten und der sog. sokratische Dialog. 3 Jahre später waren alle Anzeichen für Autismus verschwunden und der Sohn galt als geheilt. Der Sohn durfte an einer Eliteuniversität studieren und leitet nun das von den Eltern gegründete Institut das diese Therapie lehrt und verbreitet. Sie ist übrigens eine eingetragene Marke! Soweit die Geschichte dazu.

Vorab sollte ich sagen: Es mag Wunder für diejenigen geben die daran glauben. Wunder sind jedoch, schaut man sich die Definition an, etwas extrem seltenes. Für mich ist es also vermessen zu behaupten: Dieses Wunder können alle die die Therapie anwenden an einem autistischen Kind vollbringen! Ich möchte aber nicht nur, zugegeben ein wenig ironisch gefärbt, an diese Therapie herangehen.

Geht man nüchtern und neutral an dieses Thema heran fallen mehrere Punkte auf: Zum einen ist mir kein Intelligenztest bekannt, der Gesamtwerte bis 30 auflistet. Selbst wenn 30 eine unterste Schwelle im Testspektrum wäre so gilt in diesem Falle das Gleiche wie für besonders hohe Werte: Sie sind nicht wirklich zuverlässig in ihrer Aussage. Intelligenztests sind nicht für die genaue Bestimmung von Extremwerten, egal ob hohe oder niedrige, ausgelegt. Geht man davon aus das es ein genormter Test ist, so würde ein IQ Wert von 55, das entspricht einem IQ von 145 im oberen Bereich, nur noch 0,1% der Bevölkerung betreffen. Man kann sich also vorstellen wie man zu der Aussage: „IQ unter 30“ stehen kann und sollte. Folgt man nun der Ansicht, dass der IQ-Wert und damit die sog. Testintelligenz als künstliches Konstrukt, sich zwar im Laufe des Lebens verändern kann aber eine Tendenz immer bestehen bleibt muss man sich fragen wie ein Mensch der angeblich einen IQ von unter 30 hatte später an einer Eliteuniversität erfolgreich studieren konnte. Zu Erinnerung: Man geht davon aus, dass ein IQ Wert von 30 genauso häufig in der Bevölkerung vorkommt wie einer von 170! Wie wahrscheinlich ist das? Und wie wahrscheinlich ist es das jemand der so selten und extrem „minderbegabt“ ist an einer Eliteuniversität studieren kann?  Die Anforderungen dort zugelassen zu werden sind normalerweise extrem hoch!

Natürlich kommt es vor, dass einem Autisten ein wesentlich zu niedriger IQ bescheinigt wird. Diese Tests sind weder für Autisten ausgelegt noch berücksichtigen sie in ihrem Aufbau autistische Besonderheiten.

Ein erfahrener Facharzt sollte dies jedoch eigentlich wissen. Wenn dieser nun  bei einem Autisten einen IQ von unter 30 feststellt und man meine obigen Bedenken mit einbezieht könnte man schon darüber nachdenken, ob diese Diagnose wirklich korrekt gestellt wurde. Welche Konsequenzen dies bezüglich der propagierten Heilung hat obliegt dann jedem selbst.  Mit einer Wunderheilung für Autismus und andere Behinderungen kann man im Gegenzug allerdings viel Geld machen. Und gerade in den USA glaubt man ja gerne an diverse göttliche Wunder!

Ein letztes großes Thema das man fast ausschließlich im englischsprachigen Raum findet aber viel Unmut unter Autisten erzeugt ist die krampfhafte Suche nach den Ursachen für Autismus. Ich rede hier nicht von seriöser Forschung sondern von teilweise an den Haaren herbeigezogenen Studien. So bekommt man fast täglich und das dann in einer Art Nachrichtenbombardement neue Ursachen für Autismus präsentiert. Da ist es einmal die Wohnortnähe zu Autobahnen, ein anderes Mal der zu geringe Zeitabstand zwischen zwei Geburten einer Frau und, nicht auszurotten und besonders hartnäckig, die Impftheorie. Dazu kann nun jeder stehen wie er möchte, aber ich habe noch bei keiner Ursache für Autismus einen derartig verhärteten Grabenkampf gesehen. Diese in Gänze zu beschreiben ist hier eigentlich unmöglich, aber dass mit verschiedenen Maßen gemessen wird sieht man vielleicht an folgendem Beispiel:

Die Befürworter dieser Theorie stützten sich im Großen und Ganzen auf wenige Studien die einen angeblichen Zusammenhang zwischen der MMR Impfung und Autismus festgestellt haben. Im Umkehrschluss fordern sie aber man möge als Gegner der Theorie doch bitte zweifelsfrei und 100%tig beweisen das Impfungen unschädlich sind. Das dies unmöglich ist sollte jedem Menschen klar sein.

Man verkennt bei dieser Theorie zwei in meinen Augen wesentliche Punkte:

Zum einen vergisst man, dass die Anzeichen für Autismus in einem Alter von 2 bis 3 Jahren sichtbar werden. Eben genau das Alter in dem auch geimpft wird. Dass die Grundlage von Autismus überwiegend genetisch bedingt und damit seit Geburt vorhanden ist, und so sieht es nach dem Stand der derzeitigen Forschungen auf dem Gebiet aus, wird dabei verdrängt. Tritt etwas zeitnah auf besteht automatisch ein Zusammenhang.

Zum anderen wird Autismus hier nicht differenziert gesehen. Autismus ist, wie oben schon beschrieben, angeboren. Autistische Züge hingegen können erworben werden. Das man nicht von autistischen Zügen als Impfschaden sondern von Autismus redet hat wohl schlicht und einfach mit der Wirkung des Wortes zu tun. Autistische Züge klingen einfach nicht bedrohlich genug. Das man das Leben vieler Autisten aber damit schwerer macht und auf ihrem Rücken einen Kampf austrägt für den sie nichts können: Das vergessen leider alle!

Ich habe mich natürlich gefragt warum das so ist. Die Antwort war deutlich und wie auch von mir schon vermutet: Es geht um Geld. Angehörige suchen für andere Argumente verschlossen und krampfhaft nach einem Schuldigen für den Autismus ihres Kindes. Eben weil das Gesundheitssystem in den USA so teuer ist. Man sucht jemanden den man verklagen kann. In diesem Fall die Pharmaindustrie. Das man unter Umständen als Genträger selbst „schuld“ am Autismus ist möchte keiner hören. Als kleiner Gedankengang zum Schluss: Die Studie die in den 90er Jahren zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus feststellte wurde von Anwälten bezahlt die, das kommt nun nicht überraschend, mehrere Pharmaunternehmen verklagen wollten.

Honi soit qui mal y pense!

Zum Schluss bleibt mir nur zu sagen: Es war noch nie so wichtig dafür zu kämpfen das man Autismus und damit auch die Autisten versteht! Nur so kann es zu einer wirklichen Integration von Autisten in das alltägliche Leben kommen! Seien Sie bitte stets kritisch und prüfen Sie alles mit einem gesunden Menschenverstand wenn es um Informationen zum Autismus geht. Es ist nicht alles Gold was glänzt!