Die Frage wie man Autismus gut verstehen und vor allem auch leicht verständlich und schnell erklären kann beschäftigt mich ja schon sehr lange. Ich habe da vor einigen Jahren ein Modell selbst entwickelt und erkläre seitdem die autistische Wahrnehmung mit viel Erfolg. Im Laufe der Zeit kamen immer wieder Fragen zu Sonderfällen wie Kompensation, Hyperfokus und viele weitere Punkte. So wuchs mein Modell immer weiter. An einem Punkt hing ich aber immer wieder. Zum einen weil es schwer darstellbar ist, zum anderen weil zu viele Fragen offen waren. Bevor ich mit einer Theorie an die Öffentlichkeit gehe will ich mir zumindest in einigen Punkten vorab sicher sein.
Worauf will ich hinaus?
Seit Jahren, und das habe ich selbst mehrfach erlebt, bin ich der Meinung das es im Themenbereich „Überlastungszustände“ noch eine Stufe gibt die fehlt. Etwas was noch stärker als Meltdown und Shutdown ist und sich auch davon abhebt. Das Problem ist: Ich konnte keine Beschreibungen außerhalb von Shutdown und Meltdown finden bzw. keine Begrifflichkeit dafür. Weder in Fachliteratur noch in Berichten von AutistInnen. Noch schlimmer war die Angst das in Zeiten in denen Fachkräfte noch die Wahrnehmungsbesonderheiten und sensorischen Eigenheiten verleugnen das man mir erzählt ich würde mir das was ich selbst erlebt habe einbilden.
Aber all das trieb mich an und gerade wenn dieser Blogpost online geht referiere ich beim Fachtag Autismus in Rosenheim darüber.
Wo fange ich am Besten an? Es geht um eine Erweiterung bzw. weitere Differenzierung der Überlastungszustände. Um eine weiter eskalierende Stufe. Das große Problem der Pauschalisierung unter „Überlastungzuständen“ in der Fachliteratur ist, dass im Zweifel alles ein Mischmasch ist und ein Meltdown zum Wutausbruch mutiert und ein Shutdown eben nicht so wild ist und der Aautist sich nicht so anstellen soll.
Wie wichtig die schon bestehend Differenzierung ist zeigt der Fakt das ein Meltdown eben kein Wutausbruch ist sondern ein sog. „Flight or Fight“ Ausweg in Angst oder Panik zu reagieren. Alternativ dazu ist ein Shutdown eher der „Freeze“ Typ Mensch.
Ich habe mit vielen AutistInnen gesprochen und mich mit ihnen ausgetauscht. Dabei kam auch klar heraus, dass diese Eskalationsstufe nicht einfach ein Shutdown XXL ist.
Wie äußert sich dieser noch bezeichnungslose Zustand? Berichtet wird von:
- Verlust der verbalen Sprache
- Einem extremen Tunnelblick
- Angst die man nicht als Angst spürt bzw wahrnimmt die aber klar vorhanden ist
- Eine massive Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit
- Der Zustand eines Überlebensmodus bzw nur noch das Ziel bzw den Fokus darauf haben in Sicherheit zu kommen
- Eine zeitweise aber als extrem empfundene Hilflosigkeit
Wem das aus anderen „Störungsbildern“ bekannt vorkommt: Ja. Das sind keine neuen Symptome und damit auch kein eingebildeter Unsinn. Nur in Verbindung mit Autismus und Reizüberflutung ist diese Symptomatik eher wenig beschrieben. Wo man sie gut finden kann ist zum Beispiel bei Traumata. Aber Achtung: Es sind i.d.R. keine traumatischen Ereignisse die das bei Autismus auslösen. Aber natürlich kann so ein Zustand bzw. das Erleben des selbigen oder der Umgang des Umfeldes ein Trauma auslösen.
Natürlich treten nicht alle Punkte bei Jedem oder immer auf. Dafür ist Autismus zu individuell und solche Zustände in Geschwindigkeit der Entstehung und Ausprägung von vielen Faktoren abhängig.
Was aber klar werden sollte ist das es sich um Extremzustände handelt die eben nicht mehr „nur“ Shutdown oder Meltdown sind sondern das man diese extra benennen muss um den Auswirkungen von Autismus auf das Leben der AutistInnen gerecht zu werden.
Nicht zuletzt trägt eine weitere Differenzierung vielleicht dazu bei diese elendige Diskussion um Schweregrade und das Ausspielen von „leichten“ gegen „schweren“ Autismus zu beenden. Denn eines ist klar und sollte eigentlich seit er Erkenntnis das es „Maskieren“ und „Kompensieren“ gibt: Auch in der Außenbetrachtung „leicht“ betroffene AutistInnen können schwer beeinträchtigt vom Autismus sein. Bis zum Verlust der verbalen Sprache und einer Hilflosigkeit.
Wie kann man so einen extremen Zustand bzw. Ausnahmezustand nun benennen? Mein Vorschlag so wie er ist:
eXtreme Condition / Condition eXeption oder kurz Condition X
Das lässt sich auch in andere weit verbreitete Sprachen wie französisch
Condition eXtrême / Condition eXeptionelle
oder spanisch übertragen
Condición eXtrema / Estado de eXcepción.
Vielleicht ist das jetzt ein Anfang um weiter zu forschen, weiter zu differenzieren und vorallem wieder ein Schritt dahin AutistInnen besser zu verstehen.
Im März 2020 erscheint dann mein Handbuch über die autistische Wahrnehmung und eine Anleitung für mein Modell. Dort werde ich auch noch genauer auf Condition X eingehen und das weiter ausführen.
Danke für Deine Überlegungen. Das, was Du schreibst, macht Sinn. Ich habe diese Symptome immer einem schweren Shutdown zugeordnet und das Freezing entsprechend einer leichteren Ausprägung.
Die von Dir beschriebenen Zustände erlebe ich vor allem, wenn ich einer Mischung aus äußerer und innerer, also emotionaler, Überlastung ausgesetzt bin, wenn ich zwei überladende Situationen gleichzeitig maskiere, also versuche, damit klar zu kommen. Besonders schlimm wird es, wenn das Maskieren keine Entscheidung, kein Wollen ist, sondern wenn ich es muss, weil ich mich z.B. um etwas kümmern muss, das mir keiner abnimmt, das mich aber sehr belastet und überlastet. Der Delay Modus, das Aufschieben des Shutdown, bis alles erledigt ist, macht es dann so schlimm.
Ein Freeze Shutdown ist eher eine spontane Reaktion, die sich schlimm anfühlt, aber nicht so nachhaltige Folgen hat und schneller vergeht.
„Xtrem condition“, also extreme Bedingung oder „Xtrem conditioning“, also starkes konditioniert sein auf Masking, ist m.A. eine gute Beschreibung der Ursache, aber was mir immer noch fehlt: wie kann man die Symptome nennen. Vielleicht wäre X-treme response ein Vorschlag. Xtreme response auf eine xtrem Condition. 😉 Eine extreme Antwort auf extreme Bedingungen. LG Ani
Ich umschreibe das gerne als zum willenlosen Roboter mutieren. Es ist eine Situation, wo eine Kleinigkeit reicht, um die Situation eskalieren zu lassen, und mir dann tagelang der Kopf davon schwirrt inklusive in der Regel dumpfen Kopfschmerzen und nichts schaffen. Wenn ich Pech habe, ist mir übel, sobald ich da raus bin. Das Kopf schwirren und die dumpfen Kopfschmerzen sind bei mir auch Frühwarnsymptome. Dann muss ich aus der Situation schnellstmöglich raus. Wenn das nicht geht, dann endet es so. So extrem hatte ich es das letzte Mal auf dem Rückflug der letzten Reise. Wieder Zuhause ging alles nur mechanisch. Ich habe 4 Tage gebraucht, um wieder akut handlungsfähig zu sein, das heißt, dass ich zumindest wieder Herr meiner Sinne war, aber immer noch chronisch müde . Und ein Vielfaches, um Routinen wieder aufzubauen, die gleich wieder von einer dicken Erkältung gekillt wurden, und am immer vollen Jahresende schwer aufzubauen sind. Selbst wenn bei der Veranstaltung alles glatt geht, die mitunter extreme Erschöpfung hinterher sieht kaum jemand. Lieblingssatz der Nachbarin: „Stell dich nicht so an.“ Nur weil es doch schon ein paar Tage her wäre. Haha. Ich frage mich, überhaupt wie sie das schafft, was sie alles macht. Mir schwirrt der Kopf davon schon beim Zuhören. Ich würde nicht lange brauchen, um bei dem Pensum irgendwann nur noch als leicht reizbarer Roboter rumzulaufen bis eher früher als später gar nichts mehr geht.
Liebe Lesende.
Mache ein Gedicht.
Einfach ist es nicht.
Solche Emotionen.
Mit ASS.
Auch Gefühl haben.
Da kommt Panik auf.
Nicht zugelassen.
Wie im Beitrag beschrieben, ist ein ähnlicher Zustand in Zusammenhang mit Traumata bekannt, nämlich wenn das „Überlebens-Ich“ übernimmt (so wie im sehr guten Buch „Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung“ beschrieben).
Eventuell funktioniert auch die Entstehung von Traumata anders als bei neurotypischen Menschen, weil – nur als Beispiel – Anderes als lebensbedrohlich eingestuft wird und daher Traumata entstehen können, die es bei neurotypischen Menschen so tendenziell nicht geben kann? Das würde dann auch zu anderen Auslösereizen führen.
Alleine das deutlich wahrgenommene „Anderssein“, ohne es fast mein Leben lang auch nur in Ansätzen erklären zu können, könnte letztlich auf unbewusster Ebene in meinem Fall eine existenzielle Bedrohung sein, zumal die Geschichte zeigt, dass es vielfach, auch noch heute, wahrlich existenziell bedrohlich ist, „anders zu sein“ (dazu aufschlussreich zB das Buch „Vor dem Denken: Wie das Unbewusste uns steuert“ vom Sozialpsychologen John Bargh).
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Mir hier und jetzt noch wichtig, auch wenn off topic, was diesen Beitrag angeht: Nach mehr als 40 Jahren des oben beschriebenen, aber nicht begreifbaren „Andersseins“, ergab es sich vor einigen Jahren, dass ich mich erstmals näher mit dem Autismus-Spektrum beschäftigte, eine Zeit lang sehr intensiv (Foren, Bücher, Selbstbeobachtung/Erinnerungen).
Sehr Vieles erkannte ich sofort wieder und auch heute noch finde ich mich in Beschreibungen zum Autismus-Spektrum deutlich stärker und klarer als in NT-Beschreibungen und besonders meinen Beobachtungen.
Eine Untersuchung vor rund zwei Jahren durch eine Spezialistin für Diagnosen bei Erwachsenen ergab, dass ich nicht dem Autismus-Spektrum angehöre, was ich anhand des Fehlens einiger und wohl sehr typischer Merkmale nachvollziehen kann, wiewohl es sich auch um sehr gut erlernte Kompensationen handeln könnte und die Diagnose bei Erwachsenen sehr schwierig sein kann – mir geht es auch nicht um ein „Label“, sondern um ein besseres Verständnis, was mich selbst angeht und besonders die Beziehungen zu meiner Mitwelt und auch um ein „Sich-in-anderen-Menschen-wiedererkennen-können“, was so gut wie immer fundamental scheitert und das Denken und Handeln andere r Menschen für mich vielfach unbegreiflich macht – und umgekehrt, mit allen Folgen, die das haben kann.
Je mehr ich mich mit dem menschlichen Geist beschäftige, desto klarer wird mein Begriff über seine Komplexität und desto problematischer erscheint mir eine reduktionistische Klassifikation der unterschiedlichen Aspekte seiner Natur, vielfach unter Ausklammerung der Interdependenzen sowie unter Anwendung von „Occam’s Razor“. Wer wir in jedem Augenblick sind, ist meinem Begriff nach das Resultat zahlloser, miteinander in Wechselwirkung stehender Iterationsschleifen unterschiedlicher Dauer und unterschiedlichen Umfangs, in Kombination mit einem sehr weitgehenden Filter-Mechanismus, der nur einen Bruchteil des jeweiligen „Ichs“ in die bewusste Wahrnehmung aufsteigen lässt. Das, was einen Menschen als sich im Autismus-Spektrum befindlich charakterisiert, ist vielleicht nur ein sehr kleiner Teil vom Gesamtkomplex – oder zu einem kleinen Teil in jeder Komponente des Gesamtkomplexes vorhanden – oder ganz anders?
In meinem Fall scheinen einige sehr typische Symptome einer Zugehörigkeit zum Autismus-Spektrum zu fehlen, ich scheine mich insgesamt aber dennoch viel näher am Autismus-Spektrum zu befinden als am „NT-Bereich“, in Summe dann irgendwie zwischen zwei Stühlen.
Ich habe heute das Buch „Autismus mal anders“ von Aleksander entdeckt und mir gleich besorgt, im Zuge dessen landete ich auf dieser Website und bei diesem Beitrag. Ich hoffe, dass Aleksanders Buch mich ein Stückchen weiterbringt.