Ein Thema das mich lange beschäftigt hat und sich auch um Wahrnehmung dreht: Nehme ich Kunst anders wahr als andere Menschen? Muss man Kunst wirklich interpretieren? Und vor allem: wie spricht mich Kunst an? Schon an der Fragestellung erkennt man: Hier wird es mal wieder sehr persönlich. Nachfolgend beschreibe ich meinen ganz persönlichen Zugang zu Kunst im weitesten Sinne. Ob das alles so Autismus spezifisch ist, andere Autisten oder auch Nichtautisten das auch so empfinden weiß ich nicht. Ich vermute aber das es auch mit meinem Autismus zu tun hat das ich Kunst anders wahrnehme.
Kunst lebt von Interpretation
Ich möchte mich dem Thema Kunst und Wahrnehmung von Kunst erst einmal recht trocken nähern. Ich höre immer wieder: Kunst lebt von der Interpretation. Oder, aus der Schule kennen einige diesen Satz sicher, was will uns der Künstler damit sagen? Ich persönlich konnte damit immer recht wenig anfangen, letztendlich war es oft nicht das was der Künstler sagen wollte da man ihn nicht selbst gefragt hatte. Es war das was Gelehrte übereinstimmend meinten was der Künstler damit ausdrücken wollte. Nur kann das auch richtig sein? Ich bin und war da immer am Zweifeln! Interpretationen, und ich denke das geht vielen Autisten so, ist etwas sehr individuelles. Etwas das man nicht verallgemeinern kann, etwas das von der persönlichen Wahrnehmung und vor allem Lebenserfahrung abhängt und auch etwas das sehr Gefühlsgesteuert kurzlebig ist. Zumindest ich empfinde das AIR von Bach, um mal ein bekannteres Stück zu nennen, je nach Stimmung mal aufbauend, mal traurig und oftmals einfach nur fließend schön! Wenn man also nun davon ausgeht: Interpretationen sind etwas sehr individuelles und zeitgebundenes, was bleibt dann von der Kunst wenn man das ausblendet oder versucht auszublenden? Ist es dann noch Kunst? Oder reduziert man dann damit den Kunstgegenstand auf ein bedeutungsloses Objekt? Und was machen gerade Autisten die Interpretationen zu meist als Problem empfinden?
Texte müssen leben und sprechen
Gerade zur Schulzeit wird man ja mit den verschiedensten Texten und Büchern konfrontiert. Und was wäre der Deutschunterricht wenn die Schüler nicht interpretieren müssten? Wahrscheinlich eine reine Grammatikpaukveranstaltung. Ich konnte mit Interpretationen immer nicht all zuviel anfangen. Ich musste auch immer enorm etwas aus dem Hut zaubern wenn es darum ging einen Autor zu interpretieren. Ich war dann noch so ehrlich, oder sollte ich dumm sagen, das in einer Klassenarbeit zu schreiben was ich empfunden habe. Wenn ich denn etwas empfunden habe. Das meiste war für mich, die großen Dichter und Denker mögen es mir bitte verzeihen, reiner Text. Mit eben der Bedeutung welche die Worte hatten. Nicht mehr und nicht weniger. Ich könnte auch sagen: Die Texte haben weder mit mir gesprochen, noch haben sie mir ein Leben vermittelt.
Umso mehr liebe ich es, wenn ein Buch, eine Geschichte oder ein Gedicht mich ansprechen. Wenn die Worte mit mir sprechen, mich berühren und vielleicht etwas in mir bewegen. Wenn man als Leser die Außenwelt total vergisst und, sei es auch nur für den kurzen Moment weniger Zeilen, eintaucht oder einfach emotional berührt wird. Dann bekommt etwas Leben, dann hat der Autor wahrscheinlich das erreicht was er wollte: Er spricht über das Medium Text mit den Lesern. Hier entsteht dann auch ein direkter Bezug zu den vorherigen Beiträgen von mir: Autisten können sehr emotional sein! Und sie können auch empathisch gesehen Emotionen empfinden! Und, das ist nun sehr persönlich für mich, als Autist kann ich auch Emotionen vermitteln! Als man mir das zum ersten Mal, bezogen auf ein Fantasy Rollenspielposting von mir, sagte war ich recht ungläubig. Ich fing aber an darüber nachzudenken. Wie kann ich Emotionen über etwas „lebloses“ wie einen Text transportieren? War das möglich? In diesem Moment wurde mir zu ersten Mal etwas bewusst: Immer wenn ich die Geschichten meines Magiers schrieb habe ich mich in ihn hineinversetzt und versucht zu fühlen was er wohl fühlen würde in der Lage in der er sich nun gerade befand. Ich war beim Schreiben tief traurig und verzweifelt wenn es mein Magier war. Ich war wütend beim Schreiben, ich war hinterlistig, ich war mein Magier! Vielleicht ist es genau das, was es möglich macht Emotionen zu transportieren. Man schreibt mit Herz, Seele und Emotion. Und nur wenn man das selbst verkörpert springt auch der Funken beim Leser über. Vielleicht ist das aber auch nur bei Hobbyschreibern wie mir so, ein Profi kann das sicher auch ohne die Gefühlsmäßige Achterbahn. Viele Jahre habe ich mich nicht mehr mit diesem Thema beschäftigt. Bis ich angefangen habe über Autismus zu schreiben. Denn auch hier gab es wieder Reaktionen dass ich Menschen berührt habe. Das ich mit meinen Texten, wenn auch sicher auf weniger emotionaler Ebene, berühren und etwas in ihnen bewegen kann. Für mich geht das nur wenn die Texte fließen, wenn ich das Thema lebe und das was ich sagen möchte aus mir heraussprudelt. Für mich bedeutet das: Ein Text braucht Leben, ein Text muss sprechen und ansprechen. Ansonsten ist es nur ein Text der aus Worten besteht. Und das Schöne dabei ist: Es braucht dazu keinen einzigen Funken Interpretation!
Die Kunst Kunst zu fühlen ohne sie zu berühren
Es ist kein Geheimnis, dass ich gerne Strukturen die mich faszinieren erfühlen möchte. Spätestens wenn man es mit gegenständlicher Kunst wie Gemälden, Statuen oder Installationen zu tun hat wird das problematisch. Man könnte manchmal meinen: In jedem Museum gibt es eine Armee an Aufsichtspersonen die nur dazu da sind Autisten davon abzuhalten die wertvollen Gegenstände zu begreifen. Für mich fällt also eine Dimension des Begreifens von Kunst weg. Interpretieren kann und möchte ich auch nicht, was bleibt? Die Kunst ansich. Das mag recht grob und vereinfacht klingen, aber was soll ich sagen? Es ist ein Blickwinkel auf Kunst der wohl vielen Menschen fehlt. Ich habe manchmal das Gefühl, dass man von klein auf eingebläut bekommt: Kunst möchte etwas sagen! Will sie das wirklich? Na zumindest kann eine andere Sichtweise, und natürlich der anschließende Austausch darüber, eine enorme Bereicherung sein. Vor kurzem war ich hier mit sehr lieben Menschen in einer Gemäldeausstellung im Museum. Dafür, dass mir Museen aufgrund schlechter Erfahrungen als Kind immer etwas unangenehm sind habe ich mich schnell fallen gelassen. Es dauerte nicht lange da bin ich durch die Ausstellungsräume gewandelt. Es war wie ein Fluss der mich erfasst und von Bild zu Bild getragen hat. Und wie auch bei einem Fluss ging es durch einige Räume schnell durch und bei anderen Bildern wurde es ruhig und ich blieb faszinierend stehen. Mir ist erst später bewusst geworden was es war das mich hier und da innehalten lies. Das mag nun typisches Schwarz-Weiß denken sein, aber anders kann ich es nicht beschreiben. Es gibt Bilder die gefallen mir gar nicht, es gab Bilder die haben mir durchaus gefallen aber sie haben mir nichts gegeben. Und ganz wenige Bilder haben mich angesprochen. Sie haben mich in ihren Bann gezogen! Hier waren auch Bilder dabei die mir eigentlich gar nicht gefallen haben und die ich nicht wirklich im Wohnzimmer hängen haben wollte selbst wenn ich sie mir leisten könnte. An meinem persönlichen Kunstempfinden kann es also nicht gelegen haben. Was hat mich nun an diesen Bildern fasziniert? Irgendwie haben sie zu mir gesprochen, mich angezogen, mich fasziniert. Sie haben mir persönlich mehr gegeben als andere Bilder. Ich bin in dem Moment von der reinen objektiven und optisch orientierten Betrachtung eines Gemäldes in eine emotionale Ebene gesprungen. Ich kann es natürlich nicht sagen, aber ich hatte das Gefühl: hier hat der Künstler seine Kunst gelebt! Ein faszinierendes Gefühl das ich bisher so nicht hatte. Vor allem ein interpretationsfreier aber doch emotionaler Zugang zu Kunst den ich bisher so nicht kannte und mit dem ich auch nicht gerechnet hätte!
Ich weiß, dass dieser Beitrag aus den anderen heraussticht. Ich schreibe hier wenig über Autismus, nehme zu Autismus nur einen Randbezug und schreibe viel über mich persönlich. Ich mache das ganz bewusst denn zum einen ist Autismus ein Teil von mir und ich kann nicht wirklich trennen was ist autistisch und was nicht. Zum anderen möchte ich eine Tür für andere Autisten öffnen über Kunst nachzudenken. Und eine Hand reichen, und zwar all denjenigen Menschen die der Meinung sind das man immer alles interpretieren muss. Und bei Kunst besonders um sie genießen zu können! Was mir bleibt ist die Erkenntnis: Kunst kann jeden Menschen berühren wenn sie von Herzen kommt und man sich ihr ohne Vorgaben und Interpretationen nähert!
Irgendwie interessant. Ich sage auch immer, ein Text muss fliessen.
Wenn ich in eine Bücherei gehe um mir ein neues Buch zu leihen. Dann nehme ich eins aus meinem Interessengebiet. Ich schlage dann immer irgendwo inmitten des Buches auf und lese ein paar Absätze. Erreicht es mich, dann nehme ich es mit. Wenn nicht, dann lege ich es zurück. Da geht es mir wie dir, es ist dann nur Text.
Das kann manchmal schnell gehen, hat aber auch schon mal eine Weile gedauert. Ich konnte nie genau sagen, was mich genau dazu bewegt.
Wenn ich selber schreibe, dann sind es meist die Texte, über die ich mir technisch und inhaltlich am wenigsten Gedanken gemacht habe, die den meisten am besten gefallen. Vielleicht hast du recht mit dem, das sie dann eventuell aus dem innersten kamen.
Ich liebe es zu schreiben und ich denke fast den ganzen Tag über Texte nach. Sie schwirren in meinem Kopf und irgendwann schreibe ich sie dann nieder.
Wenn man dann noch jemanden damit erreichen kann. Ja, das ist ein schönes Gefühl.
Was mich in diesem Zusammenhang schon länger beschäftigt, ist der Umgang mit abstrakter Kunst. Ich kann ihr gar nichts abgewinnen. Dazu gehört auch Jazz, den ich quasi als abstrakte Musik einordne; es wird von einer Grundmelodie abstrahiert, bis sie fast nicht mehr zu erkennen ist.
Während ich bei abstrakter Kunst in Bildern und Gegenständen einfach irgendwie hilflos davorstehe, erzeugt Jazz in mir Fluchtreflexe. Je abstrakter und freier, desto stärker. Ich kann diese Musik einfach überhaupt nicht verarbeiten.
Wie ist das bei Dir? Welche Erfahrungen haben andere Autisten mit abstrakter Kunst gemacht?
Das Kunstverständnis in der Schule unterscheidet sich fundamental von dem auf dem freien Markt. Zum Glück. Kunst ist deshalb so faszinierend, weil sie einen anderen Blick auf die Welt ermöglicht. Oder einfach eine neue Welt eröffnet. Sie kann zu einem individuellen Erlebnis werden; völlig unabhängig davon, was der Künstler tatsächlich damit „sagen“ wollte.
Manchmal sind Interpretationsansätze hilfreich, um überhaupt einen Zugang zum Werk zu finden, um (schnell) mehr zu entdecken als nur das Offensichtliche. Interpretationen, und da geht es nicht nur Autisten so, sind grundsätzlich etwas Individuelles. Jeder sieht etwas anderes in einem Bild, jeder verbindet andere Gefühle damit. Und sei es ein Gefühl der Gleichgültigkeit.
Ich persönlich finde es interessanter, das Werk selbst zu entdecken. Sofern es mich anspricht, herauszufinden, warum es mich anspricht. Sind es die Farben? Die Strukturen? Die Haptik? Das Material? Die Pinselführung? Alles zusammen?
Dass mir Kunst jetzt eine konkrete Botschaft vermitteln will, interessiert mich weit weniger, als das direkte und unverfälschte Erlebnis beim Betrachten.
Danke für den interessanten Einblick. Ich habe mich schon immer gefragt, ob sich Autisten überhaupt für Kunst interessieren. Besonders aber würde mich noch interessieren, ob du dich eher von abstrakten/nicht-menschlichen Kunstwerken angesprochen fühlst oder von anthromorphen/gegenständlichen, die Menschen ab-/nachbilden? Interessiert dich eher der „Inhalt“ des Motivs (z.B. Was macht der Typ da? Warum guckt er so komisch? Das sind aber hübsche Blumen) oder die Umsetzung (Interessantes Farbspiel in den Schatten des Gesichts, ungewöhnliche Farbsprenkel im Hintergrund, nette Oberflächenstruktur)? Und nimmst du ein Gemälde intuitiv als dreidimensionales Objekt wahr? Magst du lieber zweidimensionale Bilder oder Skulpturen?
Oha, melli und ihr Verhältnis zur Kunst, was das anging, hätten meinen Lehrer auch Mandarin sprechen können, wir waren nie einer Meinung was Bilder oder Texte anging, und ich war auch nicht, nicht mal ansatzweise, in der Lage die Interpreationen meiner Mitschüler nachzuvollziehen. Dabei habe ich mir mit 5 das Lesen beibringen lassen, und unglaublich viel gelesen (allerdings hauptsächlich Science Fiction und auch (zuhause und für mich) gemalt, am liebsten optische Täuschungen (wohl weil ich selbst,nach Aussagen der Augenärzte, nicht über ein räumliches Sehen verfüge) . Dabei gibt es durchaus Texte die mich berühren, die Sternenworte von Herrmann Hesse zb., oder An eine Nervensäge von Erich Fried.
Bei Jazz pflichte ich Sabine bei, er erzeugt bei mir Ohrenschmerzen, für mich muß Musik Struktur haben und zumindest einen Hauch von Sinn, was manchmal auf der Arbeit Radiohören zur Qual macht.
Ich bin eine Kunstbanausin, wenn es danach geht, zu wissen, wer wann was wo weshab womit und warum gemalt, komponiert, fotografiert, gedichtet etc. hat.
Das ist mir völlig gleich. In Museen empfinde ich Kunst oft als steril, irgendwie ohne Seele. Ich wandle dann da durch und sage “ schön“- oder auch nicht.
Aber wenn mich dann eine Sache in ihren Bann zieht, dann ohne Begründung, ohne Interpretation oder so.
Diese stört mich dann vielmehr, sollte so etwas mitgeliefert werden, weil sie mein eigenes Wahrnehmen beschränken will.
Auch mit Musik geht es mir so.
Free-Jazz , unmöglich konserviert zu hören. Live dagegen etwas ganz anderes. Der Flow kann dann miterlebt werden…..und das in Zusammenhang mit den Klängen….ja, das geht.
Der Flow macht für mich den Unterschied von “ technisch “ gelungen und Kunst aus.
Das, was wir in Kunsthallen, goßen Konzertsälen, auf Bestsellerlisten usw. geboten bekommen, ist oft nur gut vermarktetes Handwerk.
Und dann gibt es noch die Musikstücke, die auch unperfekt gespielt Kunst für mich sind.
Weil man den innewohnenden Flow einfach nicht kaputt bekommt.
Andersrum geht auch: ein mittelmäßiges Stück so dargeboten, dass Kunst draus wird.
Oder Texte, die mich über Jahre ansprechen, auch wenn der Inhalt längst nicht mehr zu den Themen gehört, die mich bewegen.
Bilder, die ich nicht aus meinem Kopf bekomme, weil das Gefühl, welches dazu bei mir entstanden ist, konserviert ist.
In dem Moment, in dem diese Kunst mich berührt, ist es ganz egal, was hinein interpretiert werden kann. Ich kann nur in meinen Kopf und mein Herz gucken, nicht in den/ das des Künstlers.
Im Nachhinein mag ich es aber sehr, das Werk im Kontext zum Leben und Schaffen des Künstlers zu betrachten.
Autismus und Kunst, als Kunstschaffender oder als “ Konsument “ – warum sollte sich das ausschließen? Oder sich von NTs unterscheiden?
Das Zauberwort ist flow, ja….so denke ich auch.
Ich war im Musée d Orsay mal an einer Führung für Blinde – vielleicht wäre das etwas für dich? Gibt’s inzwischen in zahlreichen Museen. Ich bin sicher, da könntest du auch als Autist mitmachen – fragen lohnt sich bestimmt!
Ups, das verstehe ich nicht…warum?
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