Wenn Druck hilflos macht

Wenn man über Autismus nachliest und –denkt dauert es im Regelfall nicht lange, bis man zu dem Thema Wutausbrüche kommt. Ein Thema das zu den Stereotypen von Autismus gehört, sehr negativ besetzt ist und sich sehr schwer erklären lässt. Dazu kommt, dass viele Autisten sich schämen darüber zu reden. Wutausbrüche gehören also zu einem sehr sensiblen und fast schon mit Scham und Tabu belegten Themenkreis. Ich denke aber auch, dieses Thema darf in keinem Buch über Autismus fehlen. Wie sonst kann man Stereotypen abbauen und erklären warum und wieso es zu diesem, von der Außenwelt als unerwünschten bezeichneten, Verhalten kommen kann.

Wutausbrüche und fehlende Kommunikation

Oftmals liest man bei der Beschreibung von Wutausbrüchen, dass diese für Außenstehende ohne Vorzeichen, überraschend und erschreckend gekommen sind. Ist das aber wirklich so? Um zu verstehen wie es zu so einem Wutausbruch eines Autisten kommen kann, ist vielleicht folgender Einblick in die Gefühle eines Autisten zu einem solchen Zeitpunkt hilfreich.

Wutausbrüche sind, in letzter Konsequenz, immer das Ergebnis einer gescheiterten Kommunikation zwischen dem Autisten und seiner Umwelt. Gehen wir von folgendem Beispiel aus:

Ein Autist befindet sich in einer für ihn stressbehafteten Situation und Umgebung. Im Normalfall versucht er anfangs diese Einflüsse zu kompensieren und man wird ihm deshalb äußerlich nicht viel anmerken. Wenn jedoch die Fähigkeit der Kompensation abnimmt, beginnt die jeweilige Situation den Autisten zu belasten. Er rutscht in eine für ihn sehr unangenehme Gefühlssituation. So unangenehm, dass er nach Wegen sucht diesen Zustand abzustellen und quasi aus der Situation zu flüchten. Nicht etwa weil er einem Problem, im Sinne von Ignoranz, aus dem Weg gehen möchte. Nein, es geht darum nicht in einen Overload zu rutschen. Wenn man den Autisten näher kennt und sich auf sein Verhalten konzentriert, müsste auch ein Außenstehender langsam bemerken, dass hier etwas „im Gange“ ist und sich unter Umständen ein sog. Wutausbruch ankündigt. Das große Problem ist, und hier liegt der Kernpunkt im Missverstehen des Verhaltens des Autisten, dass viele Außenstehende diese Anzeichen entweder nicht erkennen oder richtig deuten. Schlimmer noch: Die Kommunikationsversuche seitens des Autisten scheitern oftmals. Dies führt dann zu einem „Dampfkochtopf“ Effekt. Der Stresspegel des Autisten steigt unaufhaltsam, die Tatsache das man ihn unter Umständen nicht versteht verstärkt das Ganze noch erheblich. Er fühlt sich, durch die Situation und seine Umgebung, bedrängt und steht sprichwörtlich mit dem Rücken an der Wand. Ein Gefühl das auch allen nichtautistischen Menschen bekannt sein sollte. Ab einem gewissen Punkt ist der Druck so groß, dass der Wunsch nach Flucht und „Ruhe“ nicht mehr aufzuhalten ist. Genau in diesem Moment geschieht dann das, was Außenstehende als Wutausbruch beschreiben. Da, wie weiter oben schon beschrieben, die Kommunikation zwischen Autist und seinem Umfeld gescheitert ist, kommt dieser Wutausbruch für Außenstehende recht unvermittelt. Ein weiteres Problem ist wohl der Punkt, dass die Außenstehenden die Situation nicht als so belastend empfinden als das bei Ihnen dieses Gefühl von „keinen Ausweg mehr haben“ und „mit dem Rücken an der Wand zu stehen“ auftritt. Kurzum: Der Autist versucht aus der für ihn belastenden Situation auszubrechen und aufgrund von Kommunikationsfehlern ist das oftmals für Angehörige und Außenstehende in dem konkreten Moment nicht nachvollziehbar. Wenn man sich nun vor Augen hält, dass der Autist in diesem Moment unter massivem Druck steht und nichts anderes als diesem entgehen möchte, ist es hoffentlich auch nachvollziehbar, dass er zu jedem Mittel greift das sich ihm bietet. Sei es wegzurennen, Menschen körperlich anzugehen um flüchten zu können oder sogar zu Gegenständen zu greifen um zu drohen. Es klingt bedrohlich, wenn man liest, dass ein Autist in einer solchen Situation mit einem Gegenstand zugeschlagen oder gar mit einem Messer gedroht hat. Letztendlich macht er dies aber nicht um anderen Menschen zu schaden oder gar aus böswilligem Vorsatz: Es geht einzig und Alleine nur um einen Ausweg aus der für ihn in diesem Moment ausweglosen Situation. Das Beste was man machen kann: Gebt dem Menschen eine Möglichkeit des Rückzuges! Bedrängt ihn nicht! Auch Hilfsangebote oder „darüber Reden“ kann für einen Autisten in dieser Situation schon massiv bedrängend sein! Einzig der Versuch den Autisten aktiv  aus der Situation rauszunehmen und ihm einen gesicherten Rückzug zu verschaffen ist unter Umständen noch eine Hilfestellung die in einem solchen Moment angebracht ist.

Das Autisten niemandem schaden möchten und solche Ausbrüche eigentlich niemals bösartig sind, Ausnahmen gibt’s natürlich immer, zeigt klar die Scham die hinterher entsteht. Man weiß im Nachhinein sehr genau, dass man unter Umständen anderen Menschen weh getan oder sie verletzt hat. Und eigentlich will man das gar nicht. Es passiert just in diesen Situationen nur um einer für einen selbst unerträglichen Lage zu entkommen. Natürlich entschuldigt sowas keine gewalttätigen Ausbrüche, ich hoffe aber, dass mit meiner Erklärung wie diese zustande kommen können ein wenig Verständnis dafür geschaffen wird. Und, das wäre mir der größte Wunsch bei diesem Thema, eine Sensibilität für den Autisten und seine Wahrnehmung und Belastbarkeit eintritt. Denn wenn man als Angehöriger oder Außenstehender sensibler auf die Vorzeichen und Kommunikationsversuche des Autisten eingeht, kann man unter Umständen auch viele dieser Situationen schon vorab entschärfen und umgehen. Zum Wohle aller Beteiligten!

Ich will doch keinem schaden!

Ein sehr ähnliches Thema, dass man aber trotzdem getrennt betrachten muss, ist das selbstverletzende Verhalten einiger Autisten. Leider werden solche Vorkommnisse von vielen mit den vorher beschriebenen Wutausbrüchen in einen Topf geworfen. Um dieses Verhalten zu verstehen muss man aber die teilweise komplett andere Entstehungsweise und die Gründe dafür betrachten.

Gemeinsamkeit ist sicher ein Überlastungszustand des Autisten. Ein Zustand des inneren Druckes aus dem man kaum ausweichen kann. Im Gegensatz zur bewussten Flucht aus einer Situation die man bei Wutanfällen hat, ist die Selbstverletzung eher ein innerer Konflikt. Ich versuche diesen inneren Ablauf mal aus meiner Sicht zu beschreiben:

Ich stehe, gefühlt, mit dem Rücken an der Wand und kann nicht weg. Genau das sind Momente in denen sich viel in mir aufstaut. Einerseits bin ich wie gelähmt, andererseits weiß ich nicht mehr mit dem Druck umzugehen, der entsteht, wenn man nicht mehr ausweichen kann. Nach außen hin würde man mir das wohl nicht ansehen, nach innen entsteht eine enorme Belastung.

Das sind Momente an dem ich mich manchmal frage wer nun Herr über meinen Körper ist: Mein Verstand oder mein Unterbewusstsein. Alles in mir schrie: Hau den Kopf an die Wand!

Natürlich sagte mir das keine Stimme im eigentlichen Sinne. Es ist vielmehr ein Impuls, ein Gefühl, ein Drang. Der Körper möchte mit dem Kopf an bzw. durch die Wand an der man mit dem Rücken steht. Natürlich sagt einem der Verstand, dass dies weder gesund noch hilfreich ist. Ich weiß nicht wie ich das Gefühl beschreiben soll und ob man das als Leser überhaupt nachvollziehen kann. Es ist fast so als hätte das Gehirn schon entschieden was der Körper machen soll. Es ist wie ein immer stärker werdendes Kitzeln oder Jucken in einem….das umso stärker und schlimmer wird je länger man den Impuls mit dem Verstand unterdrückt. So lange bis man es nicht mehr aufhalten kann, fast wie ein Niesreiz. Und wahrscheinlich genauso explodiert die Handlung dann aus einem raus so wie es ein Niesen tut. So überraschend und explosiv, dass Außenstehende das nicht verstehen können.

Hinzu kommt sicher auch der Schock das ein Mensch, der einem unter Umständen nahe steht, sich selbst verletzt. Und das im Regelfall nicht einmal oder einfach sondern mehrfach. Eben solange bis dieser innere Druck nachlässt. Eine für alle Beteiligten Menschen sehr unangenehme und durchaus extrem belastende Situation. Es ist ja nicht so, als würde ich in dem Moment nicht verstehen, dass ich Menschen die mich lieben damit schockiere und ihnen irgendwie auch weh tue. Aber manchmal geht es nicht anders.

Schlimm ist übrigens auch die Zeit danach wenn man sich fragt: Was ist belastender? Die Situation die diesen Drang ausgelöst hat? Das Gefühl mit dem Kopf gegen eine Wand schlagen zu müssen oder die Gedanken die sich danach um dieses Gefühl drehen. Nicht zu vergessen, dass man sich kaum einem Menschen damit anvertrauen kann. Zu viele denken bei „innerem Drang“ und „sich selbst verletzen“ an gestörte Menschen die dringend behandelt werden müssen.  Verständnis oder Unterstützung bekommt man nur selten.

Dieser Drang kann sich natürlich auch gegen andere Menschen oder Gegenstände richten. Er wird es in den meisten Fällen aber nicht weil man normalerweise niemandem schaden möchte. Es ist eine Sache die man mit sich selbst ausmachen und klären muss. Das sich dieses Ausbrechen dann gegen einen selbst richtet ist traurig aber, gerade wenn man besonders hilflos ist, nicht vermeidbar.

Verhaltensweisen bei denen sich Autisten selbst verletzen können aber auch einen anderen Grund haben: Das Bedürfnis nach Sicherheit, Kontinuität und sich wiederholenden Abläufen. Das mag für Außenstehende nun im ersten Moment seltsam klingen ist aber recht leicht erklärt.

Gewisse Reize können, je nach Autist sind diese sehr unterschiedlich, einen beruhigenden Faktor auf den Autisten haben. Klopfen auf Körperteile, Streicheln über gewisse Köperstellen, sich Kratzen oder Kneifen. Die Varianz ist so vielfältig wie die Zahl der Autisten auf dieser Welt. Was für andere Menschen schmerzhaft oder unmöglich scheint, kann für einen Autisten auch aufgrund des Widerholens sehr beruhigend sein. Ein Weg sich aus einer Stresssituation zu befreien um wieder „runter zu kommen“. Dieses Verhalten muss und sollte man klar von den restlichen hier beschriebenen Vorgängen trennen und gesondert betrachten. Hier geht es nicht um eine Flucht oder eine Notsituation, es geht vielmehr um das Vermeiden des Entstehens einer solchen. Eines der Anzeichen die ein Autist ausstrahlen kann und die es für Außenstehende zu deuten gilt. Gerade für Angehörige ist es sicherlich schwer ein solches Verhalten zu dulden und nicht zu unterbrechen. Unterbricht man dieses Verhalten können noch viel gefährlichere und extremere Situationen für den Autisten und seine Umgebung entstehen. Auch wenn es schwer ist: Hier muss man genau abwägen zwischen den Schmerzen und dem Grade der Selbstverletzung des Autisten und der Gefahr die diese für ihn darstellen.